Autor: Zum
angesehenen Rabbi kam eine Frau – sie wollte den Rat des klugen Mannes hören,
denn sie wusste einfach nicht mehr weiter – wie sollte sie mit ihrem Mann noch
zusammenleben? Der Streit zwischen den beiden Eheleuten wurde immer
unerträglicher. Der Rabbi nahm sich Zeit und hörte sich die vielen Geschichten
der Frau an und konnte am Ende nur sagen – „Ja, du hast recht!“ Eine Woche
später kam der Mann zu dem Rabbi. Er hatte mitbekommen, wie seine Frau sich
über ihn beschwert hatte und nun wollte auch er seine Version der Geschichte
loswerden. Wieder hörte der Rabbi lange zu – und am Ende konnte er nur zu dem
Mann sagen: „Ja, da hast du recht!“ Kaum war der Mann aus dem Haus gegangen kam
die Frau des Rabbis in sein Studierzimmer, wo die Gespräche stattgefunden
hatten. Sie hatte heimlich alles mit angehört, was da in dem Zimmer gesagt
worden war, und sagte nur zu ihrem Mann, dem klugen Rabbi: „Das geht doch nicht
– du kannst doch nicht beiden Recht geben. Entweder hat die Frau Recht oder der
Mann!“ Darauf der Rabbi: „Ja, da hast du auch recht!“
Diese Geschichte fällt mir
immer wieder ein, wenn ich an meine eigene Situation denke und an die Fragen,
die mich umtreiben. Ich komme mir genauso zerrissen und offensichtlich
uneindeutig vor wie der kluge Rabbi, der auf einmal ziemlich dumm dasteht.
Musik 1
Titel: Avishekes; Komposition: Omer Avital; Interpret: Omer Avital; Album: new
song; Label: Plus Loin; LC 48829.
Autor: Der erste Themenkreis, der mich so zerrissen da stehen lässt, ist all das,
was wir mit dem Stichwort „Klimawandel“ umschreiben – und was in den
vergangenen Monaten konkret in Lützerath geschehen ist. Der kleine Ort im
Braunkohle-Revier ist Mitte Januar heftig umkämpft gewesen und in der
Zwischenzeit dem Erdboden gleich gemacht worden. Auch denkmalgeschützte Gebäude
sind dem Abriss zum Opfer gefallen. Warum ich in dieser Sache so zerrissen bin?
Auf der einen Seite ist die
rechtliche Situation klar: Dem Energieversorger RWE gehört das Land, er hatte
das Recht, die Häuser in Lützerath abzureißen, um die Kohle, die unter dem Dorf
liegt, zu fördern. Ob es tatsächlich bald dazu kommt, ist offen. (1) Doch das
macht der Kompromiss möglich, der von der Landesregierung mit dem Konzern
ausgehandelt worden ist. In dem Kompromiss ist auch erreicht worden, dass fünf
weitere Ortschaften nicht abgerissen werden und unser Land aus der
Kohleverstromung schon früher als ursprünglich geplant aussteigen kann, 2030
statt 2038, immerhin.
Auf der anderen Seite sind
die Menschen, die sich als die „letzte Generation“ bezeichnen. Sie leben in dem
Bewusstsein, dass nach ihnen keine Menschen mehr da sein werden, die
unbeschwert leben und sich an der Natur freuen können. Denn wenn die Kohle
weiter gefördert wird, die CO2 -Belastung weiter ansteigt, und das Klima sich
unaufhaltsam erwärmt, werden die Lebensbedingungen nicht nur in anderen Ländern
immer unerträglicher. Dann werden mit voller Wucht auch hier die Kräfte der
Natur ins Wanken geraten. Das Leben auf dieser Erde wird zu einem nicht enden
wollenden Kampf um unsere Lebensgrundlagen. „last generation“ – sind wir die
letzte Generation, die eine Katastrophe noch abwenden kann?! Soviel ist klar:
Das Zeitfenster, etwas zu ändern, schließt sich.
Für mich ist mit diesem Thema
mein Glaube an Gott, den Schöpfer angesprochen. Und ich frage mich: Wer hat
Recht? Welche Haltung entspricht am ehesten meinem Glauben? Ich finde die
Einschätzung der Leute, die in der Klimabewegung auf die Situation aufmerksam
machen und dabei auch zu drastischen, ja manchmal auch in meiner Sicht
problematischen Mitteln greifen, sehr, sehr nachvollziehbar. Und zugleich denke
ich: War es nicht völlig richtig, einen Kompromiss auszuhandeln und nun diesen
Kompromiss auch umzusetzen – und das mit allen dem Staat zur Verfügung
stehenden Mitteln…?! Ich bin zerrissen.
Musik 2
Titel: Ballad for a friend; Komposition: Omer Avital; Interpret: Omer Avital;
Album: new song; Label: Plus Loin; LC 48829.
Autor: Das
andere Themenfeld, in dem ich mir so zerrissen vorkomme, ist das Thema, das
zurzeit jeden umtreibt: Krieg und Frieden. Wie oft habe ich in den letzten
Monaten gehört, dass man sich solch eine Situation nicht habe vorstellen
können: seit über einem Jahr herrscht Krieg am Rande Europas. Mir geht es
genauso: Ich konnte oder ich wollte es mir nicht vorstellen. Langsam frage ich
mich: Waren wir denn alle blind? Haben wir wirklich nicht geahnt, dass der
Krieg auch einmal in unsere Region zurückkehren kann? Ich wollte nicht
wahrhaben, dass Krieg offensichtlich immer eine echte Option für die Mächtigen
dieser Welt ist. Und nun bleibt uns nichts anderes übrig, als die Ukraine und
uns selbst zu schützen – durch Waffen!?! Das ist die eine Seite in mir – und
die kann ich auch gut begründen. Schließlich war es die Bekennende Kirche, die
1934 in Opposition zum Naziregime ging und in Wuppertal – Barmen eine ganz
wichtige Aufgabe des Staates beschrieben hat. In der Theologischen Erklärung
von Barmen steht:
Sprecher: Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die
Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht,
nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung
und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. (eg, S. 1379)
Autor: Es gibt sie, die gut begründeten, christlichen
Stimmen, die die Waffenlieferungen an die Ukraine in Ordnung finden – nicht nur
wegen des Rechts auf Selbstverteidigung. Es ist ein Ausdruck von christlicher
Verantwortung, wenn die Überfallenen und die Schwachen die Möglichkeit
erhalten, selbst dafür zu sorgen, dass Recht und Frieden wieder hergestellt
werden. Doch gibt es wirklich keine Alternativen?
Musik 3
Titel: song for peace; Komposition: Olaf Kordes;
Interpreten: Jazztrio: Kordes, Tetzlaff, Godejohann; Album: heimlich,still und
leise; Eigenverlag; LC: unbekannt.
Autor: Neben den Argumenten für die Waffenlieferungen gibt
es auch die anderen – und die sind nicht einfach nur naiv. In der jetzigen Zeit
braucht es eine gehörige Portion Mut, um sich zu dem urchristlichen Prinzip der
Feindesliebe zu bekennen. Feindesliebe hat noch nie bedeutet, einfach alles
stillschweigend hinzunehmen. Feindesliebe ist bei den glaubwürdigen Vertretern
dieser Haltung wie Mahatma Gandhi oder Marin Luther King immer damit verbunden,
Unrecht beim Namen zu nennen und nach kreativen, gewaltfreien Wegen zu suchen,
um aus der Spirale der Gewalt herauszukommen. Gandhi hat gesagt:
Sprecher: „Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass aus Unwahrheit und Gewalt auf Dauer
niemals Gutes entstehen kann.“ (s.: https://coachinglovers.com/zitate/mahatma-gandhi-zitate/)
Autor: Mein Glaube an Jesus Christus ist hier angerührt –
wird doch überliefert, dass die Engel bei seiner Geburt gesungen haben: „Ehre
sein Gott und Friede auf Erden unter den Menschen seines Wohlgefallens.!“ …?!?
(Lukas 2, 14) Kann wirklich nur die Waffengewalt den Angreifer stoppen? Was ist
mit Aktionen zivilen Ungehorsams, um die Kosten einer Besatzung in die Höhe zu
treiben und den Angreifer auf diesem Weg dazu zu bringen, sich zurückzuziehen?
Wäre es nicht Aufgabe der Kirche, diese anderen Wege zu benennen und mit Leben
zu füllen?! Ich bin zerrissen: Denn schließlich wurde auch Deutschland vor fast
80 Jahren nur durch eine riesige militärische Kraftanstrengung der Alliierten
vom verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus befreit und nicht durch den
zivilen Ungehorsam der Deutschen – den hat es in nennenswertem Umfang nicht
gegeben… und kann es dann an mir sein, diesen Weg anderen nahezulegen? Ich bin
zerrissen.
Musik 3
Autor: Und
schließlich gibt es einen dritten Bereich, der mich hilflos, zerrissen dastehen
lässt, je länger ich darüber nachdenke. Ich meine die Situation der Flüchtlinge
in unserem Land. Durch den Krieg in der Ukraine sind im vergangenen Jahr so
vielen Menschen zu uns gekommen wie in den heißen Flüchtlingsjahren 2014 und
2015 zusammen. (2) Für mich steht außer Frage, dass wir die Menschen bei uns
aufnehmen müssen, die in ihrer Heimat aus politischen, religiösen oder anderen
Gründen verfolgt werden oder die in ihrer Heimat an Leib und Leben bedroht
sind. Zum Glück gibt es in Deutschland noch eine hohe Aufnahmebereitschaft und
die geflohenen Menschen erfahren in der Regel echte Hilfe. Es ist für die
meisten in unserem Land keine Frage, dass die Geflüchteten unseren Beistand
brauchen und bekommen sollen. Aber ich habe große Sorge, dass diese
Bereitschaft abnehmen und sich in Richtung Unwilligkeit, ja handfeste Ablehnung
verändern könnte. Einzelne Meldungen schaffen es schon die Nachrichten. Wenn
etwa am Rande eines 500-Seelen-Dorfes gleich 400 Geflüchtete untergebracht werden
sollen. Während die Bewohner dort erst Mal Fragen haben und reden wollen,
greift die EU an ihren Außengrenzen schon hart durch. Dort, an den Grenzen
zwischen Griechenland und der Türkei und an den Grenzen der sogenannten
Balkenroute, kommt es immer wieder zu „push backs“. Die offiziellen
Gesetzeshüter der europäischen Staaten beteiligen sich an gewaltsamen
Rückführungen von Geflüchteten, obwohl sie schon europäischen Boden betreten
haben und damit alles Recht haben, Asyl zu beantragen. Verkaufen wir dort nicht
unsere Seele? Wird dort nicht das von der europäischen Union so hoch gehaltene
Ideal der allgemeinen Menschenrechte mit Füßen getreten?
Sprecher: aus der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte:
Artikel 7 Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied
Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. … Artikel 14 (1) Jeder hat das
Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen. (s. https://unric.org/de/allgemeine-erklaerung-menschenrechte/
Autor: Also – Wie können wir es schaffen, in fairen Verfahren
den Menschen in bedrohter Lage beizustehen und dabei zugleich realistisch
einzuschätzen, wie wir dauerhaft helfen können? Wie können wir der aufkommenden
Ablehnung von Geflüchteten wirkungsvoll entgegentreten? Schaffen wir es in
unserem gemeinsamen Haus Europa, die Lasten der Aufnahmen gerechter zu
verteilen? Den Zuzug begrenzen – das können wir nicht mit einfachen Zahlen tun
– nach dem Motto: soundso viele dürfen noch kommen, danach wird abgeschoben und
zurückgewiesen. Es wäre unethisch und auch nicht rechtens. Vor allem lässt sich
die Entwicklung in den Herkunftsländern der Geflüchteten nicht mit
bezifferbarer Genauigkeit vorherbestimmen. „Alle Grenzen auf!“ – ist keine
Option, „alle Grenzen zu!“ – noch weniger. Auf europäische Lösungen warten –
können wir uns das leisten? Müssen wir uns das, genau das nicht vornehmen? Hier
ist mein Glaube an Gottes Geist, dem Geist der Gerechtigkeit und der Versöhnung
angesprochen – oder besser angefragt.
Musik 4:
Titel: Milonga für Herrn L.; Komposition: Olaf Kordes;
Interpreten: Jazztrio: Kordes, Tetzlaff, Godejohann; Album: heimlich,still und
leise; Eigenverlag; LC: unbekannt.
Autor: In den Fragen von Schöpfungsverantwortung, von Krieg
und Frieden und bei der Frage, wie wir angemessen mit den zu erwartenden
Flüchtlingen umgehen – in all diesen Fragen bin ich immer wieder unsicher,
zerrissen, unklar. Kaum hab ich eine Lösung in der Hand, tun sich neue Probleme
auf. Wie mit der Zerrissenheit umgehen? Schließlich ist in all diesen Fragen
mein Glaube an Gott zutiefst berührt. Nicht nur in der Sache, auch mit jeder
Faser meines Glaubens bin ich zerrissen. Vielleicht ist es gerade jetzt die
Aufgabe der Kirche, Raum zu bieten, um die verschiedenen, sich widersprechenden
Positionen ins Gespräch zu bringen, zu hören und nach gemeinsamen Zielen zu
suchen. Der Deutsche Evangelische Kirchentag etwa hat sich immer als ein
solches Forum verstanden.
In der letzten Zeit ist ein
Gedanke von Mahatma Gandhi mir immer wichtiger geworden. Er hat einmal gesagt:
Sprecher:
Beten ist nicht bitten. Es ist ein
Sehnen der Seele.
Autor:
Wenn ich bete, dann gebe ich nicht meine
Verantwortung ab – nach dem Motto: lieber Gott ich weiß nicht mehr weiter –
bitte regele du das jetzt für mich. Solch eine Karikatur eines Gebetes wird den
Glaubenden immer wieder unter die Nase gehalten. Ich finde mich darin nicht
wieder. Eher bei dem, was Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis aufgeschrieben hat.
Dieser Mann des Widerstands gegen Hitler hat in seinen Briefen an Freunde und
Verwandte den christlichen Glauben in die Verlegenheiten unseres Lebens
hineingezeichnet. In immer neuen Anläufen fragt Bonhoeffer, was es bedeutet,
wenn die Christen an einen Gott glauben, der sich im gekreuzigten Jesus zeigt.
Am 18. Juli 1943 schreibt Bonhoeffer an seinen Freund Eberhard Bethge:
Sprecher: Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der
gottlosen Welt mitzuleiden. … Er muss „weltlich“ leben und nimmt eben darin an
dem Leiden Gottes in der Welt teil. … Nicht der religiöse Akt macht den
Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben. (WuE, S.
395, München, 1970)
Autor:
Für mich ist das eine große Entlastung. Gott
ist nicht in einem kalten, fernen Jenseits zu finden. Er zeigt sich hier –
mitten in den Verlegenheiten und in der Zerrissenheit meines ganz normalen
Alltags. Christen glauben, dass Gott sich in den Leiden von Jesus aus Nazareth
verborgen und gezeigt hat. Das macht es mir möglich, ihm meine Zerrissenheit im
Gebet hinzuhalten – und auszuharren, bis sich ein Weg findet. So hat es
Dietrich Bonhoeffer in einem Morgengebet ausgedrückt:
Sprecher: Gott, zu dir rufe ich in der Frühe des Tages. Hilf
mir beten und meine Gedanken sammeln zu dir. Ich kann es nicht allein. In mir
ist es finster – aber bei dir ist das Licht. Ich bin einsam – aber du verlässt
mich nicht. Ich bin kleinmütig – aber bei dir ist der Friede. In mir ist
Bitterkeit – aber bei dir ist die Geduld. Ich verstehe deine Wege nicht – aber
du weißt den Weg für mich. (eg , S. 1396f)
Musik 5: Good morning; Komposition:
Omer Avital; Interpret: Omer Avital; Album: new song; Label: Plus Loin; LC
48829.
Autor (overvoice): Kann gut sein, dass ich
immer wieder in die Situation komme, in denen ich mich zerrissen fühle. Dann
möge Gott mir die Geduld schenken, die ich brauche, bis sich ein Weg zeigt, den
ich gehen kann.
Einen guten Sonntag wünscht Ihnen Ihr Eberhard Helling, Pfarrer aus
Lübbecke
Quellen:
(1) https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/klimakrise-die-schlacht-um-luetzerath-ist-noch-nicht-entschieden-a-976cdc4c-ab0c-4809-b5e0-72ffbadfcac4
(2) https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/AsylinZahlen/aktuelle-zahlen-januar-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=2
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth