Zerrissen

Das geistliche Wort | 26.03.2023 | 00:00 Uhr

Autor: Zum

angesehenen Rabbi kam eine Frau – sie wollte den Rat des klugen Mannes hören,

denn sie wusste einfach nicht mehr weiter – wie sollte sie mit ihrem Mann noch

zusammenleben? Der Streit zwischen den beiden Eheleuten wurde immer

unerträglicher. Der Rabbi nahm sich Zeit und hörte sich die vielen Geschichten

der Frau an und konnte am Ende nur sagen – „Ja, du hast recht!“ Eine Woche

später kam der Mann zu dem Rabbi. Er hatte mitbekommen, wie seine Frau sich

über ihn beschwert hatte und nun wollte auch er seine Version der Geschichte

loswerden. Wieder hörte der Rabbi lange zu – und am Ende konnte er nur zu dem

Mann sagen: „Ja, da hast du recht!“ Kaum war der Mann aus dem Haus gegangen kam

die Frau des Rabbis in sein Studierzimmer, wo die Gespräche stattgefunden

hatten. Sie hatte heimlich alles mit angehört, was da in dem Zimmer gesagt

worden war, und sagte nur zu ihrem Mann, dem klugen Rabbi: „Das geht doch nicht

– du kannst doch nicht beiden Recht geben. Entweder hat die Frau Recht oder der

Mann!“ Darauf der Rabbi: „Ja, da hast du auch recht!“

Diese Geschichte fällt mir

immer wieder ein, wenn ich an meine eigene Situation denke und an die Fragen,

die mich umtreiben. Ich komme mir genauso zerrissen und offensichtlich

uneindeutig vor wie der kluge Rabbi, der auf einmal ziemlich dumm dasteht.

Musik 1

Titel: Avishekes; Komposition: Omer Avital; Interpret: Omer Avital; Album: new

song; Label: Plus Loin; LC 48829.

Autor: Der erste Themenkreis, der mich so zerrissen da stehen lässt, ist all das,

was wir mit dem Stichwort „Klimawandel“ umschreiben – und was in den

vergangenen Monaten konkret in Lützerath geschehen ist. Der kleine Ort im

Braunkohle-Revier ist Mitte Januar heftig umkämpft gewesen und in der

Zwischenzeit dem Erdboden gleich gemacht worden. Auch denkmalgeschützte Gebäude

sind dem Abriss zum Opfer gefallen. Warum ich in dieser Sache so zerrissen bin?

Auf der einen Seite ist die

rechtliche Situation klar: Dem Energieversorger RWE gehört das Land, er hatte

das Recht, die Häuser in Lützerath abzureißen, um die Kohle, die unter dem Dorf

liegt, zu fördern. Ob es tatsächlich bald dazu kommt, ist offen. (1) Doch das

macht der Kompromiss möglich, der von der Landesregierung mit dem Konzern

ausgehandelt worden ist. In dem Kompromiss ist auch erreicht worden, dass fünf

weitere Ortschaften nicht abgerissen werden und unser Land aus der

Kohleverstromung schon früher als ursprünglich geplant aussteigen kann, 2030

statt 2038, immerhin.

Auf der anderen Seite sind

die Menschen, die sich als die „letzte Generation“ bezeichnen. Sie leben in dem

Bewusstsein, dass nach ihnen keine Menschen mehr da sein werden, die

unbeschwert leben und sich an der Natur freuen können. Denn wenn die Kohle

weiter gefördert wird, die CO2 -Belastung weiter ansteigt, und das Klima sich

unaufhaltsam erwärmt, werden die Lebensbedingungen nicht nur in anderen Ländern

immer unerträglicher. Dann werden mit voller Wucht auch hier die Kräfte der

Natur ins Wanken geraten. Das Leben auf dieser Erde wird zu einem nicht enden

wollenden Kampf um unsere Lebensgrundlagen. „last generation“ – sind wir die

letzte Generation, die eine Katastrophe noch abwenden kann?! Soviel ist klar:

Das Zeitfenster, etwas zu ändern, schließt sich.

Für mich ist mit diesem Thema

mein Glaube an Gott, den Schöpfer angesprochen. Und ich frage mich: Wer hat

Recht? Welche Haltung entspricht am ehesten meinem Glauben? Ich finde die

Einschätzung der Leute, die in der Klimabewegung auf die Situation aufmerksam

machen und dabei auch zu drastischen, ja manchmal auch in meiner Sicht

problematischen Mitteln greifen, sehr, sehr nachvollziehbar. Und zugleich denke

ich: War es nicht völlig richtig, einen Kompromiss auszuhandeln und nun diesen

Kompromiss auch umzusetzen – und das mit allen dem Staat zur Verfügung

stehenden Mitteln…?! Ich bin zerrissen.

Musik 2

Titel: Ballad for a friend; Komposition: Omer Avital; Interpret: Omer Avital;

Album: new song; Label: Plus Loin; LC 48829.

Autor: Das

andere Themenfeld, in dem ich mir so zerrissen vorkomme, ist das Thema, das

zurzeit jeden umtreibt: Krieg und Frieden. Wie oft habe ich in den letzten

Monaten gehört, dass man sich solch eine Situation nicht habe vorstellen

können: seit über einem Jahr herrscht Krieg am Rande Europas. Mir geht es

genauso: Ich konnte oder ich wollte es mir nicht vorstellen. Langsam frage ich

mich: Waren wir denn alle blind? Haben wir wirklich nicht geahnt, dass der

Krieg auch einmal in unsere Region zurückkehren kann? Ich wollte nicht

wahrhaben, dass Krieg offensichtlich immer eine echte Option für die Mächtigen

dieser Welt ist. Und nun bleibt uns nichts anderes übrig, als die Ukraine und

uns selbst zu schützen – durch Waffen!?! Das ist die eine Seite in mir – und

die kann ich auch gut begründen. Schließlich war es die Bekennende Kirche, die

1934 in Opposition zum Naziregime ging und in Wuppertal – Barmen eine ganz

wichtige Aufgabe des Staates beschrieben hat. In der Theologischen Erklärung

von Barmen steht:

Sprecher: Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die

Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht,

nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung

und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. (eg, S. 1379)

Autor: Es gibt sie, die gut begründeten, christlichen

Stimmen, die die Waffenlieferungen an die Ukraine in Ordnung finden – nicht nur

wegen des Rechts auf Selbstverteidigung. Es ist ein Ausdruck von christlicher

Verantwortung, wenn die Überfallenen und die Schwachen die Möglichkeit

erhalten, selbst dafür zu sorgen, dass Recht und Frieden wieder hergestellt

werden. Doch gibt es wirklich keine Alternativen?

Musik 3

Titel: song for peace; Komposition: Olaf Kordes;

Interpreten: Jazztrio: Kordes, Tetzlaff, Godejohann; Album: heimlich,still und

leise; Eigenverlag; LC: unbekannt.

Autor: Neben den Argumenten für die Waffenlieferungen gibt

es auch die anderen – und die sind nicht einfach nur naiv. In der jetzigen Zeit

braucht es eine gehörige Portion Mut, um sich zu dem urchristlichen Prinzip der

Feindesliebe zu bekennen. Feindesliebe hat noch nie bedeutet, einfach alles

stillschweigend hinzunehmen. Feindesliebe ist bei den glaubwürdigen Vertretern

dieser Haltung wie Mahatma Gandhi oder Marin Luther King immer damit verbunden,

Unrecht beim Namen zu nennen und nach kreativen, gewaltfreien Wegen zu suchen,

um aus der Spirale der Gewalt herauszukommen. Gandhi hat gesagt:

Sprecher: „Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass aus Unwahrheit und Gewalt auf Dauer

niemals Gutes entstehen kann.“ (s.: https://coachinglovers.com/zitate/mahatma-gandhi-zitate/)

Autor: Mein Glaube an Jesus Christus ist hier angerührt –

wird doch überliefert, dass die Engel bei seiner Geburt gesungen haben: „Ehre

sein Gott und Friede auf Erden unter den Menschen seines Wohlgefallens.!“ …?!?

(Lukas 2, 14) Kann wirklich nur die Waffengewalt den Angreifer stoppen? Was ist

mit Aktionen zivilen Ungehorsams, um die Kosten einer Besatzung in die Höhe zu

treiben und den Angreifer auf diesem Weg dazu zu bringen, sich zurückzuziehen?

Wäre es nicht Aufgabe der Kirche, diese anderen Wege zu benennen und mit Leben

zu füllen?! Ich bin zerrissen: Denn schließlich wurde auch Deutschland vor fast

80 Jahren nur durch eine riesige militärische Kraftanstrengung der Alliierten

vom verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus befreit und nicht durch den

zivilen Ungehorsam der Deutschen – den hat es in nennenswertem Umfang nicht

gegeben… und kann es dann an mir sein, diesen Weg anderen nahezulegen? Ich bin

zerrissen.

Musik 3

Autor: Und

schließlich gibt es einen dritten Bereich, der mich hilflos, zerrissen dastehen

lässt, je länger ich darüber nachdenke. Ich meine die Situation der Flüchtlinge

in unserem Land. Durch den Krieg in der Ukraine sind im vergangenen Jahr so

vielen Menschen zu uns gekommen wie in den heißen Flüchtlingsjahren 2014 und

2015 zusammen. (2) Für mich steht außer Frage, dass wir die Menschen bei uns

aufnehmen müssen, die in ihrer Heimat aus politischen, religiösen oder anderen

Gründen verfolgt werden oder die in ihrer Heimat an Leib und Leben bedroht

sind. Zum Glück gibt es in Deutschland noch eine hohe Aufnahmebereitschaft und

die geflohenen Menschen erfahren in der Regel echte Hilfe. Es ist für die

meisten in unserem Land keine Frage, dass die Geflüchteten unseren Beistand

brauchen und bekommen sollen. Aber ich habe große Sorge, dass diese

Bereitschaft abnehmen und sich in Richtung Unwilligkeit, ja handfeste Ablehnung

verändern könnte. Einzelne Meldungen schaffen es schon die Nachrichten. Wenn

etwa am Rande eines 500-Seelen-Dorfes gleich 400 Geflüchtete untergebracht werden

sollen. Während die Bewohner dort erst Mal Fragen haben und reden wollen,

greift die EU an ihren Außengrenzen schon hart durch. Dort, an den Grenzen

zwischen Griechenland und der Türkei und an den Grenzen der sogenannten

Balkenroute, kommt es immer wieder zu „push backs“. Die offiziellen

Gesetzeshüter der europäischen Staaten beteiligen sich an gewaltsamen

Rückführungen von Geflüchteten, obwohl sie schon europäischen Boden betreten

haben und damit alles Recht haben, Asyl zu beantragen. Verkaufen wir dort nicht

unsere Seele? Wird dort nicht das von der europäischen Union so hoch gehaltene

Ideal der allgemeinen Menschenrechte mit Füßen getreten?

Sprecher: aus der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte:

Artikel 7 Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied

Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. … Artikel 14 (1) Jeder hat das

Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen. (s. https://unric.org/de/allgemeine-erklaerung-menschenrechte/

Autor: Also – Wie können wir es schaffen, in fairen Verfahren

den Menschen in bedrohter Lage beizustehen und dabei zugleich realistisch

einzuschätzen, wie wir dauerhaft helfen können? Wie können wir der aufkommenden

Ablehnung von Geflüchteten wirkungsvoll entgegentreten? Schaffen wir es in

unserem gemeinsamen Haus Europa, die Lasten der Aufnahmen gerechter zu

verteilen? Den Zuzug begrenzen – das können wir nicht mit einfachen Zahlen tun

– nach dem Motto: soundso viele dürfen noch kommen, danach wird abgeschoben und

zurückgewiesen. Es wäre unethisch und auch nicht rechtens. Vor allem lässt sich

die Entwicklung in den Herkunftsländern der Geflüchteten nicht mit

bezifferbarer Genauigkeit vorherbestimmen. „Alle Grenzen auf!“ – ist keine

Option, „alle Grenzen zu!“ – noch weniger. Auf europäische Lösungen warten –

können wir uns das leisten? Müssen wir uns das, genau das nicht vornehmen? Hier

ist mein Glaube an Gottes Geist, dem Geist der Gerechtigkeit und der Versöhnung

angesprochen – oder besser angefragt.

Musik 4:

Titel: Milonga für Herrn L.; Komposition: Olaf Kordes;

Interpreten: Jazztrio: Kordes, Tetzlaff, Godejohann; Album: heimlich,still und

leise; Eigenverlag; LC: unbekannt.

Autor: In den Fragen von Schöpfungsverantwortung, von Krieg

und Frieden und bei der Frage, wie wir angemessen mit den zu erwartenden

Flüchtlingen umgehen – in all diesen Fragen bin ich immer wieder unsicher,

zerrissen, unklar. Kaum hab ich eine Lösung in der Hand, tun sich neue Probleme

auf. Wie mit der Zerrissenheit umgehen? Schließlich ist in all diesen Fragen

mein Glaube an Gott zutiefst berührt. Nicht nur in der Sache, auch mit jeder

Faser meines Glaubens bin ich zerrissen. Vielleicht ist es gerade jetzt die

Aufgabe der Kirche, Raum zu bieten, um die verschiedenen, sich widersprechenden

Positionen ins Gespräch zu bringen, zu hören und nach gemeinsamen Zielen zu

suchen. Der Deutsche Evangelische Kirchentag etwa hat sich immer als ein

solches Forum verstanden.

In der letzten Zeit ist ein

Gedanke von Mahatma Gandhi mir immer wichtiger geworden. Er hat einmal gesagt:

Sprecher:

Beten ist nicht bitten. Es ist ein

Sehnen der Seele.

Autor:

Wenn ich bete, dann gebe ich nicht meine

Verantwortung ab – nach dem Motto: lieber Gott ich weiß nicht mehr weiter –

bitte regele du das jetzt für mich. Solch eine Karikatur eines Gebetes wird den

Glaubenden immer wieder unter die Nase gehalten. Ich finde mich darin nicht

wieder. Eher bei dem, was Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis aufgeschrieben hat.

Dieser Mann des Widerstands gegen Hitler hat in seinen Briefen an Freunde und

Verwandte den christlichen Glauben in die Verlegenheiten unseres Lebens

hineingezeichnet. In immer neuen Anläufen fragt Bonhoeffer, was es bedeutet,

wenn die Christen an einen Gott glauben, der sich im gekreuzigten Jesus zeigt.

Am 18. Juli 1943 schreibt Bonhoeffer an seinen Freund Eberhard Bethge:

Sprecher: Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der

gottlosen Welt mitzuleiden. … Er muss „weltlich“ leben und nimmt eben darin an

dem Leiden Gottes in der Welt teil. … Nicht der religiöse Akt macht den

Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben. (WuE, S.

395, München, 1970)

Autor:

Für mich ist das eine große Entlastung. Gott

ist nicht in einem kalten, fernen Jenseits zu finden. Er zeigt sich hier –

mitten in den Verlegenheiten und in der Zerrissenheit meines ganz normalen

Alltags. Christen glauben, dass Gott sich in den Leiden von Jesus aus Nazareth

verborgen und gezeigt hat. Das macht es mir möglich, ihm meine Zerrissenheit im

Gebet hinzuhalten – und auszuharren, bis sich ein Weg findet. So hat es

Dietrich Bonhoeffer in einem Morgengebet ausgedrückt:

Sprecher: Gott, zu dir rufe ich in der Frühe des Tages. Hilf

mir beten und meine Gedanken sammeln zu dir. Ich kann es nicht allein. In mir

ist es finster – aber bei dir ist das Licht. Ich bin einsam – aber du verlässt

mich nicht. Ich bin kleinmütig – aber bei dir ist der Friede. In mir ist

Bitterkeit – aber bei dir ist die Geduld. Ich verstehe deine Wege nicht – aber

du weißt den Weg für mich. (eg , S. 1396f)

Musik 5: Good morning; Komposition:

Omer Avital; Interpret: Omer Avital; Album: new song; Label: Plus Loin; LC

48829.

Autor (overvoice): Kann gut sein, dass ich

immer wieder in die Situation komme, in denen ich mich zerrissen fühle. Dann

möge Gott mir die Geduld schenken, die ich brauche, bis sich ein Weg zeigt, den

ich gehen kann.

Einen guten Sonntag wünscht Ihnen Ihr Eberhard Helling, Pfarrer aus

Lübbecke

Quellen:

(1) https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/klimakrise-die-schlacht-um-luetzerath-ist-noch-nicht-entschieden-a-976cdc4c-ab0c-4809-b5e0-72ffbadfcac4

(2) https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/AsylinZahlen/aktuelle-zahlen-januar-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=2

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

  • 26.3.2023
  • Eberhard Helling
  • © CCO Pixabay