Die Schlange ist lang.
Vielleicht 150 Meter. Nein, ich rede nicht vom Anstehen der Flüchtlinge vor dem
kommunalen Integrationszentrum. Ich meine das Anstehen armer Menschen vor der
Wuppertaler Tafel. Vor einem Jahr sind 3100 Haushalte wöchentlich mit
Lebensmitteln versorgt worden. Heute sind es bereits 6700 Haushalte. Mehr als
doppelt so viel. Deswegen dürfen die Menschen heute nur noch 14-tägig kommen.
„Wir mussten die Reißleine ziehen“, so der Vorsitzende der Tafel. „Die
Lebensmittel reichen sonst nicht für alle“. Und dann sagt er noch: „Viele
Wuppertaler ahnen noch gar nicht, dass sie vielleicht selbst bald Kunden der
Tafel sein können.“
Laut Armutsbericht des Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes hat die Armutsquote in Deutschland einen neuen Höchststand
erreicht.
Und noch etwas hat einen neuen Höchststand erreicht:
In diesem Jahr zahlen deutsche Aktienunternehmen 70 Milliarden Euro Dividenden
aus. So viel wie noch nie zuvor.
Vor dem, was
wir Armut nennen, kommt die Angst. Die Angst ist schon da, wenn ich meinen
Strom oder meine Heizung nicht mehr bezahlen kann. In vielen Gesprächen kriege
ich mit, dass mittlerweile viele Menschen Angst haben. Gerade auch junge Leute.
Sie glauben nicht mehr, dass sie eine gute Zukunft haben werden.
Erst Corona,
dann der Krieg, jetzt die inflationären Preissteigerungen und drohenden
Versorgungsunsicherheiten. Es hat sich herumgesprochen, dass die Verlierer
dieser Entwicklung die Armen sind. Weltweit. Es hat sich interessanterweise
noch nicht herumgesprochen, wer von dieser Entwicklung profitiert. Sie fällt
nicht vom Himmel. Im Gegenteil. Milliardäre haben ihr Vermögen asozial in den
letzten zwei Jahren um 60 % gesteigert. Eine weitgehende Spaltung unserer
Gesellschaft zeichnet sich längst ab.
Apropos
„Himmel“: Es gibt viele Geschichten im Alten und Neuen Testament, die eine
solch krasse Spaltung von Reichtum und Armut verurteilen. Dabei schlägt z.B. Jesus,
der Nazarener ein innovatives System vor, das sich nicht an der individuellen
Selbstverwirklichung orientiert, sondern daran, was wir Menschen zum Leben
brauchen. Nach 2000 Jahren sind wir aber noch lange nicht so weit. Im Moment
wird uns vorgeschlagen, kalt zu duschen, um Energie zu sparen. Zugleich
brettern SUVs mit 200 Stundenkilometern über deutsche Autobahnen, während alle
Nachbarländer längst Tempolimits eingeführt haben. Übrigens meinen die wenigen
Menschen in meinem Umfeld, die richtig Geld haben, dass sie eine andere
Besteuerung zum Wohl unserer Gesellschaft überfällig finden. Sie fahren
interessanterweise keine SUVs.
Es ist
absehbar, dass die Schlangen vor den Ausgabestellen der Tafeln in nächster Zeit
noch länger werden. Die Reaktionszeit „Not-wendiger“ politischer Entscheidungen
muss sich dagegen ganz bald verkürzen. Am besten ab heute.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
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