Als er nach dem Autoschlüssel
greift, horcht er noch einmal in die Stille des Hauses hinein. Aber da ist
nichts, kein Laut, alle schlafen. Niemand wird ihn hören, wenn er jetzt geht.
Niemand wird ihn vermissen, bis sie morgen früh aufwachen. Aber dann wird es zu
spät sein.
Er wünscht sich, es wäre
nicht so weit gekommen. Und dass er rechtzeitig aufgehört hätte. Aber er hat es
nicht wahrhaben wollen, dass er sich verrannt hat. Dass er sich immer weiter
hineinreitet. Und alle anderen mitreißt.
Jetzt ist sein Kartenhaus
zusammengebrochen. Und er müsste die Konsequenzen tragen. Aber das kann er
nicht. Genau das ist ihm heute Nacht erschreckend klar geworden: Er kann mit
dieser Schuld nicht leben. Er kann sich der Verurteilung nicht stellen, die ihn
erwartet. Durch das Gericht und durch die Nachbarn, die Kollegen, die Freunde,
die dann keine mehr sein werden.
Viele werden sagen, dass das
feige ist, was er jetzt vorhat. Aber auch das kann ihn nicht zurückhalten. Er
fühlt sich wie in einem Tunnel. Wo man nicht nach rechts schauen kann und nicht
nach links. Sondern nur geradeaus auf das, was er in dieser Nacht tun will.
Während er nun also ins Auto
steigt, ist ihm nicht bewusst, wie vielen Menschen er wehtun wird. Seiner Frau,
seinen Kindern, seinen Geschwistern, seinen Eltern. Sie alle werden diese Nacht
ihr Leben lang nicht vergessen. Obwohl sie gar nicht unmittelbar dabei gewesen
sind. Trotzdem werden sich alle immer wieder fragen: Hätten wir das verhindern
können? Haben wir irgendeine Schuld? Hätten wir vor Ort sein können? Oder im
Vorfeld irgendetwas machen, damit alles anders gekommen wäre?
Tatsächlich muss sich niemand
einen Vorwurf machen. Die Schuld liegt ganz allein bei ihm. Das würde er
jederzeit bestätigen. Beschwören, wenn nötig. Aber wenn das passiert, was er
tun will, dann kann er nichts mehr beschwören. Dann werden die Fragen bleiben.
Und die Vorwürfe. Weil niemand mehr da ist, der sie entkräften könnte.
Die einzige Alternative zu
dem, was er vorhat, ist Vergebung. Keine Vergebung vom Gericht, denn das wird
ihn sicher verurteilen. Aber Vergebung von den Menschen, die ihm wichtig sind.
Wenn nicht von allen, dann wenigstens von einigen. Und – natürlich müsste er
sich auch selbst vergeben. Müsste versuchen, es zu lernen mit der Zeit, ganz
allmählich. So wäre Leben möglich. Auch für ihn. Obwohl er sich das gerade
überhaupt nicht vorstellen kann.
Genau deswegen ist in der
Bibel „Vergebung“ so ein wichtiges Wort. Als Option für uns. Und als Zusage von
Gott. Dadurch wird nichts weggezaubert oder ungeschehen gemacht. Aber mit
Vergebung bleibt das Leben möglich. Für jeden.
Redaktion: Rundfunkpastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
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