Da ist ein Riss in allem

Das geistliche Wort | 29.03.2024 | 00:00 Uhr

Musik 1: „Kaddisch“

Titel: Kaddish for SoloViolin;

Komposition: Maurice Ravel; Interpret: Daniel Hope; Album: Forbidden Music;

Label: Nimbus Records; LC 05871

Autor

(overvoice): Mögen Sie den Karfreitag? Oder sind Sie ein Karfreitag-Muffel?

Ich mag den Karfreitag. Er erinnert an den Kreuzestod Jesu. Er konfrontiert uns

mit etwas, was wir eher verdrängen. Er konfrontiert uns mit dem Tod. Manche

sehnen sich nach leidvollen Zeiten den Tod als Erlöser herbei. Für viele kommt er

wie ein Dieb in der Nacht, wenn er uns unsere Liebsten raubt. Dann zerstört er mitten

im Leben die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.

Am

Karfreitag stirbt ein unschuldig Hingerichteter: Jesus von Nazareth, der

Menschensohn, der Mensch schlechthin.

Seit

Karfreitag weiß Gott, wie sich Sterben anfühlt. Er weiß, wie es ist im

Gazastreifen, in der Ukraine, auf den Fluchtrouten dieser Welt zu verrecken, zu

ertrinken, zu verdursten, von Bomben zerfetzt zu werden. Gott kennt auch das

Sterben auf unseren Straßen, in den Hospizen, in unseren Wohnungen, sei es

friedlich, sei es plötzlich, sei es angst- und qualvoll.

Karfreitag

ist der Feiertag, der den Tod mitten im Leben ernst nimmt.

Karfreitag

ist der Feiertag, der feiert, dass Gott uns nicht in unserem Sterben allein

lässt.

Da

versteht es sich von selbst, dass es eher ein stiller Feiertag ist ohne Disco

und Kaufrausch.

Musik

1: „Kaddisch“

freistehend

Autor: Ich möchte

Sie mitnehmen auf eine Beerdigung im Osten der Ukraine. Serhij Zhadan,

ukrainischer Autor und Musiker hat 2022 den Friedenspreis des deutschen

Buchhandels erhalten. In seinem Buch „Antenne“ erzählt er von der Beerdigung

seines Vaters. Sie fand auf einem schneebedeckten Friedhof statt, inmitten, wie

er schreibt, von „Schneemassen, die die Steppe erdrücken… den Raum lähmen“. Der

Priester hält eine Rede. Er sagt, was man ehrlicherweise angesichts des Todes

zu Atheisten sagen kann: Dass es notwendig ist, „tapfer zu sein und sich zu

erinnern“. Dann wird der Vater in der harten, gefrorenen Erde begraben. Die

Lebenden gehen zurück nach Hause, versuchen warm zu werden nach der Kälte auf dem

Friedhof, schweigen, weil sie nicht wissen, was sie reden sollen und wie der

Leichenschmaus zu eröffnen ist. Von diesem Moment der Sprachlosigkeit erzählt

Zhadan:

Sprecher: „Wir

müssen ein Gebet sprechen, sagte eine Frau. Ehe wir Leichenschmaus halten,

müssen wir ein Gebet sprechen. Alle waren einverstanden und versuchten sich an

ein Gebet zu erinnern. Vielleicht war es das Berührendste, was ich je gesehen

habe – Atheisten, die sich aufwärmen, nebeneinandersitzen und ein Gebet

suchen… Sie überlegen, aber es fällt ihnen nichts ein. Denn sie kennen keine

Gebete. Und haben auch nie welche gekannt. Sie wissen lediglich, dass es

gesprochen werden muss, das Gebet, es muss erklingen, so gehört es sich. Aber

keiner kann sich an die Worte erinnern. Sie wissen nicht, was sie jetzt machen

sollen, wie es weitergeht, was sie sagen sollen. Bis eine… Frau aufsteht,

innehält und das Vaterunser spricht – wie sie es eben noch in Erinnerung, wie

sie es im Herzen bewahrt hat. Sie spricht es, sorgsam und feierlich, bis zu

Ende, und dann hauchen all die anderen Atheisten, die sich in der Zwischenzeit

aufgewärmt haben, ein laues ‚Amen‘. Danach sprechen alle über die normalen

Dinge, über das woran sie glauben, woran sie nie gezweifelt haben – über die

Kinder, über den Schnee, über die Verstorbenen. In ihren Geschichten lächeln

die Verstorbenen der Sonne zu und scheuen keinen Regen.“ (1)

Autor: Kennen Sie

Momente solcher Sprachlosigkeit angesichts des Todes? Ich kenne sie gut. Als

Gemeindepfarrer beerdige ich seit 30 Jahren. Da habe ich viel erlebt.

Sprachlosigkeit herrschte besonders da, wo der Tod jäh zugeschlagen hatte, wenn

eine Totgeburt beigesetzt werden musste, der 18jährige Sohn als Beifahrer ohne

eigenes Zutun aus der Kurve getragen wurde und gegen einen Baum prallte, die

30jährige Tochter ihre Medikamente nicht nahm und sich in einem depressiven

Schub vor den Zug warf, ein junger Student nicht mehr von der Disco zurückkam,

weil Kleinkriminelle ihn in den Rhein gestoßen hatten.

Da

verschlägt es dir die Sprache, dokumentiert Sprachlosigkeit eine kollektive Schockstarre. Trotzdem

muss es weitergehen, ist die Totenstille zu durchbrechen, muss etwas gesagt,

getan werden, um Abschied zu nehmen. Schweigen kann da helfen. Stille kann da

helfen. Beten kann da helfen. Am Kreuz hat Jesus gebetet, seine Verzweiflung

mit Worten aus einem Psalm, einem Gebet Israels, herausgeschrien: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich

verlassen?“

Musik

1: „Kaddisch“

Autor: Das ist ein

Kaddisch, ein Totengebet, gespielt von Daniel Hope, ein altes, jüdisches Gebet

mit der Melodie von Maurice Ravel. Das Kaddisch ist im Judentum das Gebet schlechthin

zum Gedenken an die Verstorbenen geworden. Unzählige Male ist es gebetet und

angestimmt worden nach dem 7. Oktober, dem barbarischen Terrorangriff der Hamas;

ein Geschehen, das wir nie vergessen dürfen, gerade nach all dem, was an

Tragischem daraus folgte. Im Kaddisch heißt es:

Sprecher: Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er

nach seinem Willen erschaffen, und sein Reich erstehe in eurem Leben und in

euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in naher Zeit,

sprechet: Amen.

Sein großer

Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten!

Gepriesen sei

und gerühmt und verherrlicht und erhoben und erhöht und gefeiert und

hocherhoben und gepriesen der Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem

Lob und Gesang, Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt

gesprochen wurde, sprechet: Amen!

Möge Erhöhung

finden das Gebet und die Bitte von ganz Israel vor seinem Vater im Himmel,

sprechet: Amen!

Fülle des

Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteilwerden,

sprechet: Amen!

Der Frieden

stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz Israel,

sprechet: Amen!

Autor: Das Kaddisch

ist ein Lobpreis, eine Anrufung Gottes, eine Bitte um Erneuerung des Lebens, um

Frieden und die Auferstehung der Toten. Dass das Kaddisch zum prominentesten

Gebet der jüdischen Liturgie geworden ist, hängt mit der Vorstellung seiner

besonderen Wirkmacht zusammen. Besonders für Märtyrer und Märtyrerinnen wird es

gebetet. Ihre Seelen sollen durch ein Kaddisch „gehoben“ werden, heißt es. Mir

gefällt dieser Gedanke, dass Gebete für unsere Toten sie ‚erheben‘, den Himmel

näherbringen.

Was

im Christentum das Vaterunser, ist das Kaddisch im Judentum. Ob am Grab oder

beim Leichenschmaus danach: Wir brauchen Gebete zum Abschied von unseren Toten.

Und ich vermute, auch die Verstorbenen brauchen unsere Gebete.

Wenn

ich vor offenen Gräbern stehe und das Vaterunser bete, klingt eine Bitte in mir

besonders laut nach. „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“. Bin ich

mit meinem Latein am Ende, verschlägt mir das Schicksal die Sprache, hilft es

mir sehr, mich immer wieder neu in dieses Menschheitsgebet zu flüchten. Es

lässt sich übrigens Wort für Wort gut auch mit Menschen jüdischen und

muslimischen Glaubens beten. Ich finde, da ist nichts, was uns trennen müsste.

Es

hilft, sich in Zeiten eigener Sprachlosigkeit in die Gebete von anderen zu flüchten,

sich ihre Sprache zu leihen, wenn Schmerzen beschweren, Risse durch unser Leben

gehen, die das Herz zerreißen.

Musik 2: Anthem

Titel: Anthem; Komposition: Leonhard

Cohen; Interpret: Leonhard Cohen; Album: Leonhard Cohen. Live in London, Label:

Sony Music; LC: 10746

Autor:

Der

jüdische Liedermacher Leonhard Cohen singt von einem Riss in seiner Hymne

„Anthem“.„Es gibt einen Riss in allem. So kommt das

Licht herein.“ heißt es im

Refrain. „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.” Unzählige

Risse durchziehen unser Leben. Leonhard Cohen sieht darin nicht nur Schlechtes.

Ich

habe einmal eine jüdische Freundin bei der Beerdigung ihrer Mutter begleitet. In

dem Moment, wo es bei uns üblich ist, Blumen zum Abschied ins Grab zu werfen, haben

sich die engsten Angehörigen die Ärmel ihrer Blusen und Hemden zerrissen. Marina erklärt

mir später, das sei ein alter jüdischer Brauch, um zu zeigen, mit dem Tod dieses

geliebten Menschen ist ein wesentliches Band im Leben zerrissen.

Ich

erinnere mich auch an eine Witwe, die mir in meinen Jahren als Bonner

Gemeindepfarrer sehr ans Herz gewachsen war. Sie verstarb an einem

diagnostiziertem „Broken-Heart-Syndrom“. Ihr Herz war nach dem Tod ihres Mannes

innerlich wie zerrissen. Ich erinnere mich an eine Definition der Deutschen

Schmerzgesellschaft, die besagt, dass Schmerzen vor allem dann entstehen, wenn

Gewebe zerreißt. Und mir kommen biblische Notizen in den Sinn, dass sich am

Karfreitag zur Todesstunde Jesu mitten am Nachmittag der Himmel verdunkelt haben

soll und im Tempel der Vorhang vor dem Allerheiligsten zerriss.

„Es gibt einen Riss in allem. So kommt das Licht herein.“ – „There is a crack in everything. That’s how

the light gets in.” Leonhard Cohen sieht in dem Riss einen Ort, durch den Licht

hereinkommt. Cohen ist kein naiver Liedermacher. Er reichert seine Hymne der zarten

Hoffnung mit sehr nüchternen Beobachtungen an. Darin heißt es auch: Die Kriege werden weitergehen. Die

Friedenstaube wird wieder eingefangen werden. Gesetzlosigkeit und

Scheinheiligkeit herrschen auf Erden. Die Zeichen stehen auf Sturm. Wie Recht

er hat, dieser große Melancholiker.

Die

Nachwirkungen von drei Jahren Pandemie werfen weiter ihre Grauschleier auf

unsere Gemüter. Erschreckende weitere Krisen sind hinzugekommen. Gegenwärtig

leben in überregten, erschöpften, tief zerrissenen Zeiten. Wie kann da Licht

hereinkommen? Cohen empfiehlt auf die Vögel unterm Himmel zu achten. Ihr

Gezwitscher wirbt mit jedem Sonnenaufgang: „Beginne von Neuem“.

Cohen

empfiehlt aber auch: „Läute die Glocken, die noch läuten können.“Er

meint nicht süße Kirchenglocken, sondern Alarmglocken, die vor drohendem Unheil

warnen: Glocken als Weckruf! Manchmal müssen wir laut werden, müssen wir wie Feuermelder

schrillen, um Zeitenwenden einzuläuten, wach zu werden und zeitnah ins Handeln

zu kommen.

Wie

gut, dass die schweigende Mehrheit laut geworden ist, Alarm geschlagen hat und

hoffentlich weiter schlägt. Hunderttausende sind auf die Straße gegangen, haben

deutliche Zeichen gesetzt für Demokratie und Vielfalt gegen Rechtextremismus

und Menschenfeindlichkeit. Ein Licht scheint durch unsere zerrissene

Gesellschaft. Menschen tun sich zusammen, spüren: gemeinsam sind wir mehr.

Gemeinsam können wir was verändern.

Leonard

Cohens Hymne glaubt an Risse im System, durch die Licht dringt. Der Theologe

Dietrich Bonhoeffer glaubte in braunen Zeiten, dass Gott aus allem, auch aus

dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will, wenn wir unserer Verantwortung

gerecht werden und Gutes tun.

Schauen wir, wie Leonhard Cohen es empfiehlt,

auf die Vögel unter dem Himmel. Unser himmlischer Vater ernährt sie doch. Auch

uns will er mit dem Nötigsten versorgen. Schauen wir auf die Vögel und über den

Tellerrand unserer Sorgen. Werden wir Mut- nicht Wutbürger. Jesus sagt: es ist genug,

dass jeder Tag seine eigenen Sorgen hat. Lassen wir uns an seiner Gnade genügen.

Begrenzen wir unser Besorgt sein auf die Wegstrecke, die machbar ist, auf die

Bitte ums tägliche Brot. Lassen wir uns die tägliche Sorge genug sein. Kümmern

wir uns um das, was naheliegt, machbar und möglich ist, statt in Schockstarre

oder wie ein HB-Männchen in die Luft zu gehen.

Musik

2: Anthem

Autor:

Risse sind schmerzlich – aber aus Niederlagen,

aus Fehlern zu lernen, kann Neuanfänge möglich machen. Auf Karfreitag folgt

Ostern. Nicht selten zwingt uns der Schmerz, die Trauer, die Angst zur

Veränderung. Altes muss zerreißen, damit Neues sich entfalten kann. Eine Raupe muss

sich verpuppen, in ihrem Kokon völlig wehrlos werden, damit die Verwandlung zum

Schmetterling geschieht. Dem Licht folgen, das durch Risse dringt, heißt am

Karfreitag, dem zu folgen, der am Kreuz zu seinem Vater als Letztes betet:

„Vater in deine Hände befehle ich meinen Geist.“

Risse

waren Cohen eine Hymne wert in alarmierenden Zeiten. Durch Gott ging am Kreuz ein

Riss, ein Trennungsschmerz. Das im Tempel der Vorhang zerriss, zeigt: Zwischen

Himmel und Erde ist nichts mehr so, wie es einmal war. Krippe und Kreuz,

Karfreitag und Ostern, Tod und Auferstehung sind in einem Atemzug zu nennen.

Gott hat sich hinreißen lassen, Mensch zu

werden. Am Kreuz hat sich ein wunderbarer Gott, als verwundbarer, mitfühlender,

mitleidender Vater gezeigt. Wie gut, dass sein Sohn, als Botschafter einer grenzenlosen

Liebe, nicht tot zu kriegen war. Kein Putin, keine

Hamas, keine Bombe, kein Schicksalsschlag, kann das ewige Band zwischen Gott

und Mensch zerreißen. Das ist der tiefe Grund, warum wir Karfreitag feiern

dürfen.

Albert Camus schreibt: „Mitten im Winter erfuhr ich endlich, dass in mir ein unvergänglicher,

unbesiegbarer Sommer ist.“ (Heimkehr nach

Tipasa, 1952) Mitten im kalten Dunkel des Karfreitags erfahren wir, dass

Unbesiegbares geschehen ist. Es gibt einen unbesiegbaren Sommer. Es gibt die

Erfahrung, dass durch schmerzhafte Risse Gottes Licht in unser Leben dringt.

Der

an Depression erkrankte Autor Matt Haig hat einmal geschrieben: „Heute weiß

ich, dass ich größer als die Depression bin. Ich bin der Himmel. Die Depression

ist nur eine Wolke.“ (Andere Zeiten, 2022) Auf Golgatha, am Kreuz, hat Gott

gezeigt: Alles, was uns ängstigt, sind höchstens Wolken. Dahinter wartet der

Himmel, die Sonne, das ewige Licht auf uns.

„Es gibt einen Riss in allem. So kommt das

Licht herein.“ Karfreitag,

der Feiertag des Todes, feiert eine schöne Aussicht. Auf uns wartet ein Licht

am Ende des Tunnels; wir werden in Gottes Händen gut aufgehoben ein. In diesem

Sinne wünsche ich uns einen guten Karfreitag.

Ihr Pfarrer

Siegfried Eckert aus Leverkusen.

Musik: Leonhard Cohen ‚Halleluja‘

Halleluja; Komposition: Leonhard Cohen;

Interpret: Leonhard Cohen; Album: The Essential Leonard Cohen, Label: Col (Sony

Music); LC 10746

Quellen:

(1) Zhadan, Serhij, Antenne, Suhrkamp, Berlin,

2020, 16f.

Redaktion:

Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

  • 29.3.2024
  • Siegfried Eckert
  • © Foto von Joe Gardner auf Unsplash