Realistisch und hoffnungsvoll leben

Kirche in WDR2 | 05.05.2023 | 00:00 Uhr

Wiederholung vom 24.02.2021

Ich setze

mich auf den OP-Stuhl und lehne mich zurück.

Für die Fruchtbarkeitsfürsorge. Social Freezing. Eizellen entnehmen,

einfrieren und aufheben für später.

15-mal

bin ich umgezogen, das heißt 15 mal eine andere Frauenärztin und irgendwie auch

15-mal eine andere schwammige Diagnose „Könnte schwierig werden …“. „Aha.“

Und

obwohl ich meistens gar keinen akuten Kinderwunsch habe, ist da immer diese

Schwere: Das mit dem „guter Hoffnung sein“ das wird vielleicht nichts.

Oder

wenn, dann kommt erstmal das große Elend.

Das ist

zumindest das, was ich auf den Gesichtern von Frauen und Männern in den

Kinderwunschzentren sehe: Mag sich Sex im besten Fall himmlisch anfühlen,

Kindermachen in der Petrischale ist die Hölle. So viel stille Angst und Bangen

in den Wartezimmern, man könnte meinen, man ist auf der Krebsstation.

Aber

jetzt habe ich mich auf den OP-Tisch gesetzt.

Ich lehne

mich zurück und das Elend all der Menschen im Wartezimmer ist nicht mehr meins.

In meinem Kopf, Herz und Körper ein Satz, in den ich mich fallen lasse.

Mir wird

nichts mangeln. Ich fühle es.

Mir wird

nichts mangeln. Ich glaube es.

Mir wird

nicht mangeln. Ich bin mir sicher.

Die

Vollnarkose wirkt.

Mir wird

nichts mangeln aus Psalm 23 sind Worte, die zur Autosuggestion eigentlich nicht

taugen. Also zum Sich-selbst-etwas-Gutes-sagen. Positiv müsste so ein Satz

formuliert sein. Zum Beispiel: „Ich werde sein, die ich sein will, und alles haben,

was ich haben will.“ Aber das – das ist doch eine Illusion, oder? Nicht jeder

wird eine Mama, ein Papa, Oma oder Opa.

Da ist die Enttäuschung doch vorprogrammiert.

„Mir wird

nichts mangeln.“ Der Bibelvers ist einfach da. Die Worte tragen. Sie sind realistisch.

Und voller Vertrauen.

Das

zerbrechliche, komplizierte, wahre Leben kennt doch immer einen Mangel.

Da fehlt

immer was, manches ist für immer verloren, vieles erfüllt sich nie.

Ob das

der Wunsch ist, dass niemand jetzt in diesem Moment weltweit oder auf unseren

Intensivstationen unnötig leidet oder stirbt. Oder ob das mein ganz privates

kleines Glück ist.

Psalm 23

ist so realistisch und vertrauensvoll.

Dass es

ein erfülltes Leben gibt, ohne erfüllte Erwartungen. (Dietrich Bonhoeffer)

Die

Narkose lässt nach, es ist alles gut gegangen.

„Und was

machst du jetzt?“, fragen mich die, denen ich von meinem Eingriff erzähle:

„Nix“,

sage ich. „Ich wollte mir nur Zeit kaufen, eine Tür nicht zu früh schließen. Ich

will realistisch und vertrauensvoll leben. Ich erwarte nicht, dass ich alles

haben und sein werde. Ich erwarte nur eins: Mir wird nichts mangeln.“

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/60982_WDR220230505Bergerweb.mp3

  • 5.5.2023
  • Katrin Berger
  • © CCO Pixabay
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