Jetzt ist die Zeit

Das geistliche Wort | 08.06.2023 | 00:00 Uhr

Aus rechtlichen Gründen enthält das Audio nicht die im Manuskript genannte Musik.

Musik

1: This Is the Beginning

Komposition: Sonja Glass,

Philipp Steinke & Valeska Steiner; Interpretin: BOY; Album: Mutual Friends;

Label: Grönland (Rough Trade); LC:

01387

Autorin: Gestern Abend ist der

Deutsche Evangelische Kirchentag in Nürnberg eröffnet worden! Christinnen und

Christen aus ganz Deutschland und aus der weltweiten Ökumene treffen sich. Das

Motto: Jetzt ist die Zeit. Auch ich bin bei diesem Glaubensfest dabei, bei dem

wir uns begegnen, singen, miteinander feiern und diskutieren. Bis Sonntag gibt

es unzählige Veranstaltungen: Podiumsdiskussionen, Vorträge, Gottesdienste,

Feste, offenes Singen, Großkonzerte und Kleinkunst. Immer wieder bin ich

inspiriert und überrascht, es macht mich nachdenklich und hoffnungsvoll.

O-Ton Brudereck: Ich liebe den

Kirchentag sehr.

Autorin: Sagt die Theologin und

Autorin Christina Brudereck.

O-Ton Brudereck: Es ist für mich die

schönste Form eigentlich von Kirche. Weil es so ein großes, weites Dach ist, wo

wir alle Platz drunter finden. Also, wo viele Platz drunter finden. Und es ist

immer so bunt und es gibt immer so unfassbar verrückte Sachen, auch. Wo ich gar

nicht wußte, dass es das in der Kirche auch gibt. Und dann gibt es so schöne

Schätze und Traditionen, die dazu gehören müssen, irgendwie. Und es gibt bunte

Schals und singen in der Straßenbahn.

Und ja, wir sind jetzt hier Kirchentag in Nürnberg. Und hier kommen ganz

viele Christinnen und Christen, Menschen mit Gottvertrauen, Skeptische,

Fragende, Zweifelnde, viele sehr engagierte au s ihren lokalen Gemeinden und

Gemeinschaften. Wir bergen uns unter einem Dach, aber unter dem Dach ist ganz

viel möglich. Wir feiern den Glauben. Das ist für mich Kirchentag.

Musik

1: This Is the Beginning

Autorin: Gestern

Abend hat Christina Brudereck auf dem Kornmarkt in Nürnberg bei einem der

großen Eröffnungsgottesdienste die Predigt gehalten. Sie lädt ein, den

Kirchentag als Möglichkeitsraum auszukosten, um miteinander zu debattieren.

Denn Kirchentag ist Zeitansage. Ein Forum, auf dem die brennenden Fragen

unserer Zeit auch im Licht der biblischen Botschaft bedacht werden. Die

biblischen Texte bieten Wurzelboden für das Handeln von Christinnen und

Christen und sind zugleich Kriterium der Glaubwürdigkeit. Für mich sind die

Geschichten der Mütter und Väter im Glauben mal Richtschnur, mal heilige

Unterbrechung, mal Ermutigung. Es ist gut, dass biblische Texte in Nürnberg

gehört werden. Christina Brudereck schätzt vor allem die Bibelarbeiten am

Morgen.

O-Ton

Brudereck: … Ich finde das sind die intensivsten Momente und ich finds

faszinierend, dass sich jeden Morgen Tausende um ein altes Buch versammeln. Und

das finde ich für unsere Kirche sehr wichtig: welche Geschichte erzählen wir?

Welche Geschichte lassen wir an uns ran?

Musik 2:

Telling Stories

Komposition/Text/Interpretin:

Tracy Chapman; Album: Greatest Hits; Label: Elektra Entertainment; LC: 00192

Autorin:

Das Motto des Evangelischen Kirchentages in Nürnberg lautet: „Jetzt ist die

Zeit.“ Es stammt aus einem kleinen Abschnitt im Markusevangelium.

Sprecher: Nachdem Johannes gefangen genommen worden war, ging Jesus nach Galiläa

und verkündete die frohe Botschaft Gottes. Er sprach: „Jetzt ist die Zeit:

Gottes gerechte Welt ist nahe. Kehrt um und vertraut der frohen Botschaft. (1)

Autorin: Es

sind politische Worte. Johannes der Täufer wurde verhaftet, haftbar gemacht für

seine Botschaft. Der Evangelist Markus erzählt bewusst davon. Er solidarisiert

sich mit den Gefangenen, mit den Unterdrückten. Dann zitiert er Jesus mit

diesen Worten: Jetzt ist die Zeit! Es ist beinahe soweit. Die Zeit ist erfüllt,

die Zeit ist vollgemacht, so heißt es wörtlich im griechischen Text. Höchste Zeit

also, um Gott sein Herz zu schenken. Jesus macht deutlich, dass Gott eingreift,

inmitten der Zeitläufe, in denen scheinbar das Recht des Stärkeren siegt. (2)

Gott rettet das Kleine, Gott sucht die Verlorenen. Jesus drängt darauf: Es ist

höchste Zeit, über eine gerechte Welt nachzudenken.

Darüber wird der

Kirchentag diskutieren: Wie sehen die richtigen Schritte der Solidarität für

uns heute aus? Der Solidarität und Hilfe für die vom Krieg überfallenen

Menschen in der Ukraine? Eine Frage, die viele zerreißt, die unter uns

vielschichtig betrachtet wird. Darüber ist zu diskutieren und ja, zu ringen.

(3) Wie gut, dass der Kirchentag den Diskurs öffnet, findet der Pfarrer und

Autor Titus Reinmuth, der in diesen Tagen auch dabei ist:

O-Ton

Reinmuth: Ich schätze den Kirchentag auch sehr als einen Ort, wo verschiedene

Positionen einfach mal an einen Tisch gebracht werden. Ja, wo wirklich

irgendwie sachkundig, kompetent, aber strittig diskutiert wird. Ich hab so den

Eindruck in den letzten Jahren: viele sind doch in ihrer Bubble unterwegs und

es gibt kaum noch so die Bereitschaft, einem anderen Menschen, einer anderen

Position, die nicht doch irgendwie die eigene ist, mal in Ruhe zuzuhören. Und

damit zu rechnen: da sieht jemand was, was ich nicht sehe oder noch nicht so

sehe. Es sind ja selten Momente in den politischen Talkshows, wo mal einer

sagt: „stimmt, da haben Sie einen Punkt. Da haben Sie recht.“ Also, sowas will

ich auch mal wieder erleben, dass Leute gemeinsam um die politischen Fragen

ringen. Ernsthaft. Sich zuhören. Irgendwie weiterdenken.

Autorin:

Jetzt ist die Zeit. Aber wofür? Für

Kampfjets oder Verhandlungen? Für neue Heizungen, Windräder und Tempolimit? Für

neue Regeln oder neue Ideen? Für mehr Druck oder mehr Gelassenheit?

O-Ton

Reinmuth: Meine Tochter, die ist

Anfang zwanzig. Die fragt natürlich eher: Wieviel Zeit haben wir denn noch,

ja?! Das ist glaub ich auch in ihrem Freundeskreis stark Thema. Einmal die,

natürlich die große politische, wirtschaftliche Herausforderung: Klimawandel.

Sind wir die letzte Generation, die es noch abwenden kann? Oder ist es schon zu

spät? Die anderen Frauen auch in ihrem Umfeld fragen sich, denken jetzt darüber

nach: Will ich eigentlich nochmal Kinder in diese Welt setzen oder nicht? Wo

geht das hin? Also, dass jetzt ne Krisenzeit ist, erleben die natürlich sehr

deutlich.

Autorin:

So berichtet Titus Reinmuth von

seiner Tochter, und ich frage mich, was das eigentlich beutet, wenn Jesus sagt:

Jetzt ist die Zeit. Wir haben doch auch viel Zeit verplempert mit Blick auf die

Klimakrise. Zurecht müssen wir die Frage der nächsten Generation aushalten. Was

machen wir mit der kurzen Zeit? Kehrt um! Ändert euch! Jesu Wort von der

Umkehr. Es ist bitternötig und so schwer. Ich kenne das von mir. Wie mühsam es

ist, eingespielte Muster zu verlassen, Meinungen, die ich mir gemacht habe, zu

überdenken. Jetzt ist die Zeit! Das ist nichts Statisches. Das bringt mich in

Bewegung.

Musik 3: New Beginning

Komposition/Interpreton: Judy

Bailey; Album: Traveling; Label: Gerth Medien; LC: 13743

Autorin:

„Jetzt ist die Zeit“ – dieses Motto

bedeutet für Titus Reinmuth noch etwas ganz anderes. „Mit dir wird es

leichter“. So heißt das aktuelle Buch des Autors, das er in Nürnberg mit seiner

Band „Kreuzweise“ als Rockstory in Wort und Ton auf die Bühne bringt. Die

Geschichte ist komplett als Dialog geschrieben. Tim erfährt, dass er Krebs hat

und nimmt Kontakt mit Sarah auf, seiner Freundin aus Kindertagen. Die beiden

schreiben im Chat. Weil Schreiben wirkt (4). Das Gespräch zwischen den beiden

ist ein sensibler Blick auf die besondere Qualität von Zeit. Wie das Leben neu

spürbar wird, wenn es durch eine Krankheit jäh ausgebremst ist. Als ob das

Leben anders kostbar wird durch eine solche Unterbrechung. Eine Geschichte mit

Herz und Verstand.

O-Ton

Reinmuth: Das ist tatsächlich die Erfahrung des Protagonisten Tim. Klammer auf

– das bin schon zu 80 / 90% ich selbst – Klammer zu. Ich hab das erlebt, wie

sich die Zeit eben plötzlich verändert durch so eine Krebsdiagnose. Selbst wenn

es dann bald heißt: ist behandelbar. Kommen Sie durch, wird ein bisschen

strapaziös, aber es wird gehen. Das beruhigt schonmal. Trotzdem hat man da ja

aber einen Weg vor sich und trotzdem ist das eine Zäsur. Plötzlich stellt Tim

sich Fragen, die ihn ja jetzt direkter berühren als früher. Du weißt das

theoretisch. Die Lebenszeit ist begrenzt. Und jetzt rückt es Tim einfach auf

den Leib.

Autorin: Aber Tim muss da nicht alleine durch. Da ist ja noch

Sarah. „Mit dir wird es leichter“ hat einen Untertitel: „Ein Jahr, eine

Freundschaft und 1001 Nachricht“. Man versteht sofort…

O-Ton

Reinmuth: …da ist eine Freundschaft. Und die gehen irgendwie zusammen durch die

Krise hindurch. Und durch die Freundschaft wird diese Zeit leichter. Aber genau

das ist die Erfahrung von Tim. Jetzt ist die Zeit zu leben! Und das führt bei

ihm zu einem unglaublichen Lebenshunger auch.

Also

ein Nebenplot ist, dass er unbedingt mit seiner alten Kindergartenfreundin

Sara, mit der er sich schreibt, möchte er unbedingt nochmal eine Reise machen,

weil sie früher in Schweden, auf der Insel Öland, in der Kindheit und Jugend

auch schöne Urlaube verbracht haben. Ja, so ein bisschen verliebt waren die

schon damals. Und er möchte jetzt diese Freundschaft auskosten, er möchte

möglichst bald nochmal diese Reise machen. Und, und und. Das ist einfach eine

Erkenntnis, die jetzt ihn richtig tief erfasst hat. Das Leben ist jetzt und nicht

irgendwann. Jetzt ist die Zeit zu leben.

Musik 4: Hope

Komposition: Jack Johnson

& Zach Rogue; Interpret: Jack Johnson; Album: Sleep Through the Static;

Label: Universal (Universal Music); LC: 97777

Autorin:

Das Leben ist jetzt. Tim, der

Protagonist des Buches ist mittendrin im verwobenen Lebensteppich von schwerem

und leichtem. Er lebt sein Leben während der Krankheit im Trotzdem. Trotz

allem, mit allem, mit Trotzkraft und Trost. Trost auch, den er sich selbst

nicht geben kann. Neben unserer Zeit gibt es noch eine andere Kraft. Von ihr

spricht die Theologin Christina Brudereck.

O-Ton

Brudereck: Ich hab mich sehr besonnen darauf, dass es neben Zeit auch noch

Ewigkeit gibt. Also, ne ganz andere Kraft, die über uns hinausreicht. Und zwar

nicht, um mich darauf zu vertrösten, sondern um das hier überhaupt auszuhalten.

Weil ich merke, aus eigener Kraft und nur mit eigener Inspiration werden wir es

wahrscheinlich nicht schaffen. Es gibt noch etwas. Das ist anders als unsere

Zeit, anders als unsere Kraft, anders als das, was wir an Verständigung und

Gemeinschaft schaffen. Es gibt dieses Moment von Überraschung, Heiliger

Geistkraft. Wir sind nicht allein. Wir sind verbunden. Aber das ist mehr als

nur: wir sind tausend! Ja, sondern da ist immer tausend und etwas mehr. Was wir

nicht erklären können, nur mit uns selbst. Und das brauchen wir dringend. Ich

brauchs in meinem Alltag dringend. Weil ich sonst, ja, sonst reicht mir die

Zeit nicht. Aber dadurch dass ein Ewigmoment dazukommt, verlier ich die

Lebenslust nicht.

Autorin:

Meine Lebenszeit ist nicht das

Einzige, da ist noch ein Ewigmoment. Oder um es mit dem Kirchentagspsalm 31 zu

sagen:

Sprecher:

Ich habe mein Vertrauen auf dich gerichtet,

LEBENDIGE. Ich habe gesagt: Mein Gott bist du! In deiner Hand sind meine Zeiten

(4)

Autorin:

Der Präsident des 38. Deutschen

Evangelischen Kirchentags Thomas de Maizière hatte gemeinsam mit dem Präsidium

die Idee, in jeder Veranstaltung dieser Woche eine freie Minute zu haben. Eine

Minute zur freien Verfügung – nicht gestaltet, nicht verdudelt, ohne Impuls.

Titus Reinmuth findet die Idee gut. Die Band Kreuzweise wird die Minute

umsetzen.

O-Ton

Reinmuth: Ich bin sehr gespannt, wie wir das erleben werden auf dem Kirchentag,

wenn in jeder Veranstaltung irgendwann der Punkt kommt, wo es dann heißt, so

jetzt gibt es die freie Minute. Eine Minute kein Input, keine Musik, nichts.

Einfach nur zur freien Verfügung. Ist ja erstmal eine interessante Idee. In

unserem Programm gibt es einfach einen sehr schönen leichten Song, der heißt

„Jetzt und Hier“. Da geht es darum das Leben Jetzt und hier anzunehmen und zu

genießen. Und ich glaub wir machen das so, … wenn da so der letzte Refrain

ausplätschert, dann gibt es diese eine Minute.

O-Ton

Musik: Jetzt und Hier (Auszug live)

Autorin:

Ich freu‘ mich auf bei diesem

Kirchentag dabei zu sein. Mit anderen gemeinsam immer mal wieder still zu

werden in diesen freien Minuten und den Zauber des Lebens bewußt zu genießen.

Mir klarzumachen, wieviel ich in meinem Leben verändern kann, der Umwelt

zuliebe. Auch, weil es neben meiner Zeit den Ewigmoment gibt. Das wünsche ich

auch Ihnen, ob in Nürnberg oder an ihrem Ort. Gottvertrauen und intensive

Momente an diesem Feiertag. Ihre Susanne Wolf, Pfarrerin aus Wuppertal.

Musik: Why not

Komponist/Interpret: Chris Botti; Album: Slowing Down the World; Label:

The Verve Music Group; LC: 89825

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/61079_GW230608WolfohneMusik.mp3

  • 8.6.2023
  • Susanne Wolf
  • (Kirche im WDR)
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