Post aus Süddeutschland.
Absender: ein Anwalt, dessen Name mir gar nichts sagt. Sicher nicht so wichtig,
denke ich. Erst zwei Tage später öffne ich den Brief. Und erschrecke. Ein
Verstoß wegen Nichtzahlung der Mautgebühr in Italien. Ich soll zahlen. Dank
allerlei Gebühren und Auslagen hat sich die eigentliche Autobahngebühr
verzehnfacht. Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen, wo eh schon alles teurer
wird.
Ich krame in meinem
Gedächtnis. Ja, da ist etwas gewesen, letzten August. Um zu tanken, müssen wir
raus. Aber an der Ausfahrt keine Möglichkeit zum Zahlen. Nur die Schranke und
eine Klingel. Also klingeln wir und weiter geht die Fahrt.
Ich denke, einen Versuch ist
es wert und rufe den Anwalt an. Und – o Wunder – die nette Dame am anderen Ende
hört zu und hat Verständnis. Ich muss nur die fehlende Autobahngebühr
nachzahlen, plus Halterermittlung.
Sie hat meinen Tag gerettet.
Zum einen wegen des Geldes. Aber auch, weil ich mich so freue, dass es das noch
gibt. Mal Fünfe gerade sein lassen. Gnade vor Recht ergehen lassen. Das klingt
vielleicht etwas pathetisch, aber sind wir nicht alle richtig glücklich, wenn
es passiert? Wenn die Chefin einen nicht ständig daran erinnert, dass das
letzte Projekt daneben ging. Wenn der Partner verständnisvoll ist, obwohl die
neuen Schuhe sündhaft teuer sind. Wenn Lügen auffliegen und wir trotzdem noch
Freunde bleiben.
Nicht, dass wir uns jetzt
falsch verstehen. Recht und Gerechtigkeit sind ein hohes Gut. Und es sollte
immer in den Händen der Betroffenen liegen, ob sie Gnade walten lassen oder verlangen,
was ihnen zusteht.
Doch Gnade,
gnädig sein, ist ein wichtiger Grundzug im menschlichen Miteinander. Schon die Bibel
erzählt davon. Am schönsten vielleicht in der Geschichte vom „Verlorenen Sohn“
(Lukas 15). Der hat sich sein Erbe schon vor dem Tod des Vaters auszahlen
lassen. Damit geht er ins Ausland und lebt in Saus und Braus. Klar, schon bald
ist alles Geld futsch, verprasst. Eine Hungersnot bricht aus. Der Sohn erinnert
sich an sein Zuhause und kehrt zurück. Sein Vater läuft ihm entgegen. Er könnte
ihn jetzt zurechtweisen: „Was willst Du? Hau ab. Wir sind quitt.“ Aber das
Gegenteil passiert: Er umarmt seinen Sohn und sie feiern ein großes Fest.
Gnade
vor Recht: Sein Vater lässt ihn trotz seines Verhaltens nicht büßen. Obwohl es
auch nach heutigen Maßstäben dumm und egoistisch war. Gnade vor Recht:
Vielleicht haben auch Sie schon einmal jemanden glücklich gemacht, indem Sie auf
ihre Ansprüche verzichtet haben? Oder denken bei der nächsten Gelegenheit darüber
nach. Ich werde es versuchen. Und dabei an die nette Anwältin denken.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
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