"Gott ist gegenwärtig" (eg 165)

Choralandacht | 24.09.2022 | 00:00 Uhr

Autorin: Beim Stöbern im

Keller fällt mir das kleine Gesangbuch mit Goldschnitt in die Hände. Vor 50

Jahren habe ich es zur Konfirmation geschenkt bekommen, von meiner Großtante

Berna, die damals bei uns lebte. Ich wusste gar nicht, dass ich das Gesangbuch

noch habe. Vorne steht eine handgeschriebene Widmung der Tante: Für Hanna zur

Konfirmation. Und darunter, ebenfalls handgeschrieben, ein Liedvers:

Sprecher/in:

Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne

stille halten,

lass mich so, still und froh deine Strahlen fassen und

dich wirken lassen.

Autorin: Die Worte stammen

aus dem Lied „Gott ist gegenwärtig“ von Gerhard Tersteegen.

Choral, Str. 1

Gott ist gegenwärtig; Text: Gerhard Tersteegen;

Komponist: Joachim Neander; Interpret:

Das Solistenensemble; Leitung: Gerhard Schnitter;

Album: Die größten Choräle aus fünf Jahrhunderten; Label: hänssler-music; LC: 07224.

Sprecherin

(overvoice):

Gott

ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten.

Gott ist in der Mitte. Alles in uns schweige und sich innigst vor ihm beuge.

Wer ihn kennt, wer ihn nennt, schlag die Augen nieder; kommt, ergebt euch

wieder.

Autorin: Ich erinnere

mich, dass ich als knapp 14jährige mit diesen Worten nicht viel anfangen

konnte. Mehr noch: ich spürte Widerstand. Ich wollte mich nicht „innigst

beugen“ vor Gott, nicht die Augen niederschlagen, mich ergeben und vor ihm

bücken. Ich war gerade dabei mich selbst zu entdecken, Selbstbewusstsein

einzuüben, aufrecht und mutig ins Leben zu gehen. Da passten diese Demutsgesten

nicht.

Heute,

Jahrzehnte später und um einige Lebenserfahrungen reicher, gehört Tersteegens

Lied zu meinen Lieblingschorälen im Gesangbuch, auch wenn ich mit dem Bücken

und Beugen weiterhin meine Schwierigkeiten habe. Aber die Worte vom

Berührtwerden durch Gott und die große Innigkeit, die das Lied ausstrahlt, das spricht

mich an.

Choral, Str. 3

Sprecherin

(overvoice):

Wir

entsagen willig allen Eitelkeiten, aller Erdenlust und Freuden;

da liegt unser Wille, Seele, Leib und Leben dir zum Eigentum ergeben.

Du allein sollst es sein, unser Gott und Herre, dir gebührt die Ehre.

Autorin: Da ist jemand

angekommen, so wirkt es, bei sich und bei Gott. Er weiß um die besonderen

Gottesmomente, die im Leben aufleuchten können: Gott ist gegenwärtig. Gott ist

in der Mitte. Er kann es spüren: Gott ist da und füllt die Luft und das Herz

und den Sinn. Alles andere tritt für diesen Moment in den Hintergrund.

Als

das Lied entsteht, 1729, ist Gerhard Tersteegen 32 Jahre alt. Er stammt aus

einer Kaufmannsfamilie in Moers am Niederrhein. Der Vater stirbt, als Gerhard

noch ein kleines Kind ist. Er kommt bei einem Onkel in Mülheim unter. Bei ihm

macht er später eine Kaufmannslehre und eröffnet ein eigenes Geschäft. Doch der

junge Mann spürt, dass ihm etwas fehlt. Er knüpft Kontakt zu pietistischen

Kreisen in Mülheim und findet dort seine geistliche Heimat. Er vertieft sich in

die Schriften der Mystiker, Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz. Und übersetzt

ihre Texte ins Deutsche. In der Mystik

suchen Menschen nach unmittelbarer Gotteserfahrung in Kontemplation und Gebet,

in Abgeschiedenheit und einfachem Leben. Sich selber (los)lassen, um Gott zu

finden. Tersteegen ist fasziniert von diesem Weg und beginnt, ihm auf seine

Weise zu folgen. Am Gründonnerstag 1724 verspricht er sich Jesus als seinem

Erlöser und Heiland auf „ewig“ – in einem mit dem eigenen Blut geschriebenen Brief.

Wie ein Bräutigam seiner Braut. Wie ein Mönch bei seinem Ordensgelübde.

Choral, Str. 5

Sprecherin

(overvoice):

Luft,

die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge Grund und Leben,

Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller Wunder: ich senk mich in dich hinunter.

Ich in dir, du in mir, lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden.

Autorin: Solche dichten

Momente, in denen die Grenze zwischen der eigenen Person und Gott zu

verschwimmen beginnt, sind nur schwer in Worte zu fassen. „Luft, die alles füllet… Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller

Wunder…“ Auch ein wortgewandter Tersteegen kommt ins Suchen und Stottern. Das ist die Sprache der Mystik. Sie

sagt, dass das Göttliche immer und überall in und um uns ist. Wie die Luft, die

wir atmen, wie die Weiten und Tiefen des Meeres, die unauslotbar sind. Tersteegen

möchte sich darin versenken, um davon ganz ergriffen zu werden.

Drei

Jahrhunderte zuvor hat der Schweizer Mystiker Nikolaus von Flüe diese große

Sehnsucht in einem Gebet so formuliert:

Sprecher/in:

Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich

hindert zu dir.Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert

zu dir.Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz

zu eigen dir.

Autorin: Darum geht es der Mystik: Sich nicht hetzen

lassen von den Eindrücken und Zerstreuungen des Alltags. Sondern auf die Mitte,

auf Gott konzentriert bleiben.

Sich darin üben. Sorge und Angst loslassen. Gott um das Nötige bitten und es

als Geschenk annehmen. Beten und die kleinen Taten der Liebe tun. Ganz da sein

und Gott Raum geben. Darauf vertrauen, dass er die Dinge in Segen verwandelt.

Choral, Str. 8

Sprecherin

(overvoice):

Herr,

komm in mir wohnen, lass mein‘ Geist auf Erden dir ein Heiligtum noch werden;komm,

du nahes Wesen, dich in mir verkläre, dass ich dich stets lieb und ehre.Wo ich geh, sitz und steh, lass mich dich erblicken und vor dir mich bücken.

Autorin: Gerhard

Tersteegen redet nicht einer Weltflucht das Wort. Er wendet sich bewusst den

Menschen zu: Er unterrichtet Kinder und verfasst für sie einen Katechismus; er

dichtet zahlreiche Lieder, von denen neun heute in unserem Gesangbuch stehen;

er wird zu einem gefragten Seelsorger; er unterhält eine ausgedehnte

Korrespondenz, tritt vielerorts als Redner und Prediger auf.

Mein altes

Gesangbuch hat inzwischen einen neuen Platz gefunden. Es steht in meinem Zimmer

im Bücherregal. Ab und an nehme ich es zur Hand und lese noch einmal die

Widmung:

Sprecher/in:

Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne

stille halten,

lass mich so, still und froh deine Strahlen fassen und

dich wirken lassen.

Autorin: Und dann denke ich: Um nichts anderes geht es doch im

Glauben. Sich Gott öffnen und ihn wirken lassen.

Choral, Str. 6

Sprecherin

(overvoice):

Du durchdringest

alles; lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte.

Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten,

lass mich so still und froh deine Strahlen fassen und dich wirken lassen.

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

  • 24.9.2022
  • Hanna Mausehund
  • © CCO Pixabay