Sprecher:
Nach
einer Weile stand ich auf und ging durch den Park. Ich kam an einer
Bronzestatue von einem Mönch in Kutte vorbei. Das alte Gesicht des Mönches
wirkte auf mich diabolisch. Ich bekam Angst! Mich überkam das Gefühl, dass auch
die Unterwelt ihre Fänge nach mir ausgebreitet hätte. Alle höheren Mächte
schienen nach mir zu greifen.
Autor:
Das
ist kein Alptraum und auch kein Ausschnitt aus einem Fantasyroman. So klingt
es, wenn jemand unter einer schweren Psychose leidet.
Sprecher:
Ich
ging weiter, verließ den Weg und schlug mich in ein Gebüsch. Ich wollte mich
verbergen. Die Natur schien mich vor dem Überirdischen beschützen zu können.
Die Wald- und Naturgeister wollten mich auch verbergen. Kobolde halfen mir,
mich zu orientieren.
Autor:
Jens
Jüttner heißt der Mann, der diesen unheimlichen Parkbesuch mit Dämonen und
Kobolden erlebt hat. Das war zu einer Zeit als die paranoide Schizophrenie den
jungen Rechtsanwalt fest im Griff hatte. 10 Jahre lang war Jens Jüttner
psychisch krank. Über diese schwierige Phase seines Lebens hat er später ein
Buch geschrieben. Der Titel seiner Erinnerungen: „Als ich aus der Zeit fiel“.
O-Ton: „Ich fand das
so ganz schön, die Vorstellung, dass die Zeit ohne mich weiterläuft. Alle
anderen gehen ihren normalen Lebensweg weiter und entwickeln sich weiter und
ich fühlte mich so, als wär‘ ich da rausgefallen durch meine Krankheit; als
würd‘ ich in so einer Blase stecken. Die Welt läuft weiter, nur ich bin außen
vor. Alles läuft an mir vorbei. Ich bin also quasi aus der Zeit oder aus der
Welt gefallen.“
Autor:
Gottseidank
ist Jens Jüttner nicht für alle Zeit aus der Welt gefallen. Er hat einen Weg
aus der Krankheit herausgefunden. Wie ihm das gelungen ist, welche Menschen ihn
dabei unterstützt haben und welche Rolle sein Glaube bei seiner Gesundung
gespielt hat, davon hat er mir erzählt.
Musik 1: In my life
Titel: In
my life; Album: Rubber Soul, Interpret: The Beatles, Komposition/Text:
Lennon/McCartney ; Verlag: Apple Corps. , Label: Apple (Universal Music),
Bestell-Nr.: B00GJ7RP2O
Autor: Viele Menschen
haben Angst, sich mit psychischen Krankheiten zu beschäftigen. Außerdem gibt es
viele Vorurteile gegenüber psychisch Erkrankten. Deshalb ist Jens Jüttner
Aufklärung so wichtig. Mich hat interessiert, was die Auslöser für seine
paranoide Schizophrenie gewesen sind.
O-Ton:
„Das sind verschiedene Gründe. Also bei der Schizophrenie oder bei Psychosen
aus dem schizophrenen Formenkreis spielt auch immer die Genetik eine gewisse
Rolle. Also man muss eine vererbte Veranlagung für diese Erkrankung haben, und
im frühen Erwachsenenalter bricht sie dann aus, wenn irgendein Trigger
dazukommt, also irgendein Auslöser. Und Auslöser ist vor allen Dingen Stress.
Also stressige, emotional belastende Ereignisse. Alles, was dem Körper Stress
auslöst, kann dazu führen, dass es dann zu einem psychotischen Schub kommt und
die Krankheit zu Tage tritt. Natürlich kann er auch durch Drogen ausgelöst
werden, zum Beispiel Cannabis. THC ist ein häufiger Trigger für Psychosen.“
Autor: Bei Jens
Jüttner begann die Erkrankung vor seinem zweiten juristischen Staatsexamen.
Damals war er 27 Jahre alt. Bis zu seinem 38. Lebensjahr hatte die paranoide
Schizophrenie ihn fest im Griff, mit schwerwiegenden Auswirkungen auf seine
berufliche Karriere und auf sein Privatleben. Mehr noch als die Gründe für
seine Krankheit hat mich aber interessiert, wie er wieder gesund geworden ist.
O-Ton:
„Nach über 10 Jahren wirklich heftigster Krankheit mit unterschiedlichen Phasen
war glaub‘ ich wichtig, um wieder zu einem gesunden Leben zurückzukehren, dass
man zunächst einmal für sich die Krankheit annimmt, sich eingesteht, dass man
krank ist und dann auch bereit ist, sein Leben zu ändern; also sich auf etwas
Neues einzulassen und von dem Alten, was bei mir der Job als Rechtsanwalt war,
Abstand zu nehmen und sich neu zu orientieren.
Autor:
Jens
Jüttner arbeitet heute als Ex-In-Genesungsbegleiter für psychisch erkrankte
Menschen. Gefragt, was zu seiner Genesung beigetragen hat, nennt er im
Rückblick noch etwas Zweites:
O-Ton:
Dazu gehört dann auch, dass man eine gute Struktur in seinem Alltag hat, … und
… dass man das Gefühl hat, dass das, was man tut, einen Sinn hat. Ich glaube, jeder
Mensch braucht eine Aufgabe und wenn man seine Aufgabe gefunden hat und so
vielleicht seine Art „Bestimmung“ oder so etwas, dann gibt es ganz viel auch an
Zufriedenheit im Leben.
Autor: Das Alte hinter
sich lassen und etwas Neues beginnen. Den Alltag strukturieren und eine
sinnvolle Aufgabe finden. Um diesen Weg einzuschlagen, um am Ende wieder gesund
zu werden, war schließlich noch etwas wichtig:
O-Ton:
… wichtig sind stabile Beziehungen, gute Beziehungen zu Freunden, Familie,
Partnerin. Dass man da auch wirklich darauf achtet: Mit welchen Menschen umgebe
ich mich? Sind das positive Beziehungen für mich? Also eigentlich Dinge, die
für jeden Menschen wichtig sind, damit er psychisch gesund bleibt und dass es
ihm gut geht.“
Autor:
Hinzu
kam eine gute medizinische Begleitung: die passenden Therapien und die
richtigen Medikamente; Ärzte und Therapeutinnen, mit denen er offen über seine
Krankheit sprechen konnte. Mich beeindruckt, wie offen er über seine Geschichte
Auskunft gibt und wie er dabei auch unbequemen Fragen nicht ausweicht; zum
Beispiel der Frage, ob seine Krankheitszeit auch für irgendetwas gut gewesen
ist. Am Ende seines Buches geht er darauf ein.
Sprecher:
Natürlich
könnte man sagen, dass ich die besten Jahre meines Lebens an die Krankheit
verloren habe. In den Lebensjahren von Mitte Zwanzig bis Mitte Dreißig legen
andere den Grundstein für ihre Karriere, schauen sich auf Reisen die Welt an
oder machen andere faszinierende Erfahrungen. Mich hat in diesen Jahren fast
ausschließlich die Krankheit beschäftigt. Trotzdem sehe ich die Zeit nicht als
verloren an. Ich habe durch die Krankheit viel über mich und die menschliche
Psyche gelernt. (…) Heute geht es mir sehr gut und ich bin zufrieden mit dem
Menschen, der ich bin. Auch dies ist schließlich ein Ergebnis der Krankheit.
Ich weiß nicht, ob ich glücklicher wäre, wenn mein Leben den üblichen Gang
gegangen wäre und ich immer noch als Rechtsanwalt arbeiten würde. Keiner kann
sagen, was für ein Mensch dann aus mir geworden wäre. Ich bin mit meiner
Vergangenheit im Reinen.
Musik
2: Time after time, Eva Cassidy
Titel: Time after time; Komponist: Rob
Hyman; Interpretin: Eva Cassidy; Album: The Best of Eva Cassidy, Track 7;
Label: Blix Street Records; LC: 20040
O-Ton:
„Für mich war ganz wichtig auf dem Weg zur Genesung, dass ich Altes loslassen
konnte; dass ich Dinge hinter mir lassen konnte, die mich verstrickt haben, die
mich vielleicht auch noch zurückgehalten haben. Und da, glaube ich, ist auf
jeden Fall der christliche Glaube ein guter Weg, weil es ja im Glauben angelegt
ist, dass man durch Gebet, durch Bitte um Vergebung der Sünden auch Altes
abstreifen kann und immer wieder, eigentlich jeden Tag, die Chance zum
Neuanfang hat. Und da gehört dann auch ganz viel Vertrauen zu: dass man, ja,
das Vertrauen, hat loszulassen. Vertrauen hat, es wird schon irgendwo
hinführen, wenn ich jetzt die alten Bahnen verlasse. Und da hilft es, wenn man
glaubt, dass da jemand ist, der ja vielleicht die Kontrolle übernimmt. Dass man
selber Kontrolle abgibt und einfach vertraut, und Glauben hat, dass es besser
wird.“
Autor: Vertrauen
haben. Neben stabilen Beziehungen und der medizinisch-therapeutischen
Begleitung spielte auch der Glaube bei Jens Jüttners Gesundung eine wichtige
Rolle. Die Art und Weise, wie er vom Loslassen und Neuanfangen spricht, lässt
mich an einen Menschen aus der Bibel denken. An Elija, einen Propheten aus dem
Alten Testament. Der ist lange Zeit ein sehr erfolgreicher Gottesmann. Auf dem
Höhepunkt seines Wirkens besiegt er 400 falsche Propheten im Alleingang. Doch
kurze Zeit später wird Elia von einer tiefen Lebenskrise heimgesucht. Auch er
fällt aus der Zeit. Lebensmüde legt er sich in der Wüste unter einen Strauch
und will einfach nur noch sterben. Ein Psychotherapeut würde bei Elija
heutzutage vielleicht eine schwere Depression oder einen Burnout
diagnostizieren. Ein Burnout ausgerechnet bei ihm, der doch früher so für
seinen Gott gebrannt hat! Elijas Auszeit in der Wüste erinnert mich daran, dass
auch der Glaube einen Menschen nicht vor seelischen Krisen bewahrt. Seine
Geschichte erzählt aber auch davon, wie ein Mensch wieder aus einer Krisenzeit
herauskommen kann.
Musik
3: Meine Zeit steht in deinen Händen. (Sarah Kaiser)
Meine Zeit steht in deinen Händen; Album: Gott
ist da – 12 Klassiker von Peter Strauch, Interpret: Andreas Volz, Dania König,
Sarah Kaiser, Komposition/Text: P. Strauch; Verlag: Hänssler; Label: SCM Hänssler,
LC: 98808
Sprecherin:
Lesung 1. Könige 19, 3-7 (Übersetzung BasisBibel)
Da geriet Elija in große Angst. Er sprang auf und lief um sein
Leben. So kam er nach Beerschebaan die Grenze von Juda. Dort ließ er
seinen Diener zurück. Er selbst ging noch einen Tag lang weiter – tiefer in die
Wüste hinein. Dann setzte er sich unter einen Ginster-strauch und wünschte sich
den Tod. »Es ist genug!«, sagte er. »Herr, nimm mir doch das Leben! Denn ich
bin nicht besser als meine Vorfahren.“ Schließlich legte er sich hin und
schlief unter dem Ginsterstrauch ein. Plötzlich berührte ihn ein Engel und
forderte ihn auf: »Steh auf und iss!« Als Elijaum sich blickte, fand er
etwas neben seinem Kopf: frisches Fladenbrot und einen Krug mit Wasser. Er aß und
trank, dann legte er sich wieder schlafen. Doch der Engel
desHerrnerschien ein zweites Mal. Wieder berührte er ihn und
sprach: »Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir!«
Autor:
Jens
Jüttner sprach davon, dass bei seinem Weg aus der Krankheit das Loslassen von
alten Überzeugungen eine wichtige Rolle gespielt hat. Der Prophet Elijas
verabschiedet sich in der Wüste von dem Aberglauben, dass sein Leben eine
One-Man-Show ist. Dieser Abschied fällt ihm nicht leicht. Der hilfsbereite
Engel muss ihn gleich zweimal wachrütteln und zum Weitergehen auffordern. Ich
finde es wunderbar, dass der Engel in dieser Geschichte keine Wunder
vollbringen muss, um Elija zu helfen. Der Engel gibt Elija etwas zu essen. Er
bittet ihn weiterzumachen. Er bleibt hartnäckig an seiner Seite. Das sind sehr
einfache Hilfen, mit denen man einem anderen Menschen zu einem Engel werden
kann. Menschen mit psychischen Erkrankungen können diesen Beistand besonders
gut gebrauchen. Zum Glück gibt es berufliche und ehrenamtlich Mitarbeitende,
die Menschen mit psychischen Erkrankungen genauso ausdauernd und hartnäckig
begleiten wie der Engel den Elija.
Musik 4: Time after time (Miles davis)
Titel:
Time after time; Album: You`re under arrest, Interpret: Miles Davis,
Komposition/Text: Lauper/Hyman/Everhart; Verlag: Col.; Label: Sony Music; LC
02604
Autor: Alte
Überzeugungen loslassen und neue Wege gehen. Das sollte auch unsere
Gesellschaft beim Umgang mit psychischen Erkrankungen beherzigen. Psychisch
erkrankte Menschen können unserer Gesellschaft viel geben, wenn wir sie mehr
teilhaben lassen.
Ich
wünsche mir, dass wir in ihnen Menschen sehen, mit denen Gott noch viel vorhat!
Jens
Jüttners Wünsche gehen in eine ähnliche Richtung….
O-Ton: „Ich arbeite
ja jetzt seit zwei Jahren in einer psychiatrischen Klinik als
Ex-In-Genesungsbegleiter, hab die Ausbildung gemacht, und ich finde, das sind
ganz tolle Menschen, mit denen ich da arbeiten darf, viele sind schwerkrank,
aber ich würde mir wünschen, dass auch andere Menschen mit weniger Vorurteilen
und Vorbehalten Menschen mit einer psychischen Erkrankung begegnen .
Dass
sie mehr Teil unserer Gesellschaft werden. Sie werden noch zu sehr ausgegrenzt
und, ja, dadurch dass die Krankheit, vor allen Dingen Schizophrenie, Psychose
aber auch andere Krankheiten, so tabuisiert ist, weiß man so wenig und es gibt
so viele Vorurteile. Und, ja, das Stigma, das den Menschen dann anhaftet, dass
sie vielleicht irgendwie bösartig, gefährlich oder sonstiges sein könnten,
belastet die Menschen sehr.
Autor:
Dass
Menschen mit psychischen Erkrankungen etwa gewalttätig werden, kommt
tatsächlich vor. Aber das sind Ausnahmefälle. Oft aufgebläht von den
Boulevardmedien.
O-Ton:
Das kann passieren. Das kann auch passieren bei Menschen, die keine psychische
Erkrankung haben. Das passiert viel eher bei alkoholisierten Menschen als Menschen
mit einer Psychose.
Autor:
So
Jens Jüttner.
O-Ton:
Und es sind immerhin 500.000 Menschen in Deutschland, die mit Psychose oder
Schizophrenie zu tun haben. Und die alle dann mit über einen Kamm zu scheren
und dafür zu verurteilen, dass die Leute Angst haben und sich kaum auf die
Straße trauen, das finde ich schade. Denn ich möchte in einer Gesellschaft
leben, wo sich keiner dafür schämen muss, krank zu sein und wo wir offen und
tolerant auch mit Menschen umgehen, die vielleicht ein wenig abseits der Norm
leben.
Autor: Abseits der
Norm passiert viel Gutes. Als Seelsorger mache ich immer wieder die Erfahrung,
dass man eine Menge von Menschen lernen kann, die mit psychischen Erkrankungen
umgehen müssen. Immer wieder staune ich über die Kreativität, die viele
psychisch Erkrankte haben. Denen wünsche ich viel Kraft zum Leben mit ihren
Krankheiten und noch viel mehr, dass sie wieder gesund werden! Uns allen
wünsche ich einen gesegneten Sonntag mit Zeit für das, was unserer Seele
guttut. Ihr Pfarrer Peter Krogull von der evangelischen Kirche in Düsseldorf.
Musik: Badbadnotgood, Time moves slow
Titel: Time moves slow; Album: IV,
Interpret: Badbadnotgood, Komposition/Text:
A. Sowinski/C. Hansen/L. Whitty /M. Tavares/S. T. Herring; Verlag: Round hill ; Label: Innovative leisure; LC: 51774
Redaktion: Landespfarrer
Dr. Titus Reinmuth