Die
Propagandamaschinen laufen auf Hochtouren. Im Osten wie im Westen. Während die
Menschen im Osten allerdings seit Jahrzehnten wissen, was sie von ihren
gleichgeschalteten Medien zu erwarten haben, erlebe ich uns im Westen eher
unvorbereitet. Es tauchen plötzlich Redewendungen und Begriffe auf, die nicht
zu meinem Wortschatz gehören. Sog. „Expert:Innen“ definieren, wie wir was zu
verstehen haben. Es sind immer wieder dieselben Expert:Innen, immer dieselben
Erklärungen: In allen Talkshows, Kommentaren, Interviews.
Ehrlich
gesagt, bin ich stinksauer. Wenn es stimmt, dass Worten Taten folgen, macht mir
der momentane Umgang mit Sprache echt Angst. Apokalyptisch wird eine „neue
Welt“ beschworen, mindestens eine „Zeitenwende“. „Panzerhaubitzen“ und
„Tarnkappenbomber“ seien überlebenswichtig. Und die Bundeswehr brauche sofort
100 Milliarden Euro, weil unsere Soldaten keine langen Unterhosen haben. Wer
versucht, diese Erklärungen als Verdummung zu „enttarnen“, wird öffentlich
fertig gemacht.
Es war auf
einer Veranstaltung mit russischen und ukrainischen Musikern. Wir haben
zusammen gegessen und uns darüber ausgetauscht, was uns eigentlich als Menschen
verbindet. Welchen Erklärungen können wir noch glauben? Welche Worte bewirken
welche Folgen? Ein russischer Kollege meint: „Mit der Frage war doch bereits
Pilatus beschäftigt: Was ist Wahrheit?“ Dann nimmt er einen Stift und einen
Zettel, malt eine „6“ auf und fragt die ihm gegenüberstehende
Gesprächspartnerin, was sie sieht. Sie antwortet:
„Eine ´9´“.
Und er fragt: „Und wie kommen wir jetzt zusammen?“
Genau darum
muss es gehen: Wie kommen wir wieder zusammen? Auf die „Wahrheit“ sehen wir von
verschiedenen Seiten aus, und jede/jeder fühlt sich im Recht. Freiheit und
Frieden können aber nicht gegen Leben eingetauscht werden. Schluss mit dem
widerlichen Gerede über Militärstrategien, Waffen, die Notwendigkeit des
Tötens! Irrsinn. Wir müssen ganz anders reden, mit ganz anderen Worten,
miteinander. Um des Lebens willen.
Pilatus hat
bereits gewusst, dass sich mit der Frage nach Wahrheit ganz unterschiedliche
Interessen verbinden: Auf der einen Seite das Interesse der Besatzungsmacht,
damals Rom. Auf der anderen Seite das Interesse des jüdischen Establishments im
damals besetzten Jerusalem. Am Ende hat sich Pilatus pragmatisch für die Logik
der Macht entschieden, für die Hinrichtung Jesu. Bleibt die Frage: Sind wir
kulturell irgendwie weitergekommen?
Ich schlage
vor, wir schicken alle sog. Expert:Innen auf den Mond und hören erst einmal den
Müttern der ukrainischen Soldaten und den „Soldatenmüttern Russlands“ zu. Dann
laden wir die Zeitzeugen der südafrikanischen „Wahrheitskommission“ ein und die
Aktivistinnen der Versöhnungsarbeit in Ruanda. Vielleicht bekommen wir dann
eine Ahnung davon, wie es mit unserer Welt weiter gehen könnte.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
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