Leben

Kirche in WDR2 | 15.01.2022 | 00:00 Uhr

Ich

bin einfach losgefahren. Ich will da unbedingt hin. Ganz in den Norden auf die

Insel Juist. Mein Bruder hatte damals eine schwere Herz-OP hinter sich. Es war Januar,

ungefähr um diese Zeit im Jahr, da habe ich ihn zuletzt im Krankhaus gesehen.

Dann hat er noch eine Reha gemacht. Die Tour nach Juist mit seinen besten

Freunden war lange geplant. Er war immer noch schwach, aber er ist mitgefahren.

Und dann, am Mittwoch, nachmittags auf dem Sofa, hat sein Herz aufgehört, zu

schlagen.

Es

fällt mir immer noch schwer, das zu begreifen. Also bin ich losgefahren. Als

müsste ich das mit dem Begreifen irgendwie nachholen. 370 km Richtung Norden. Ich

übernachte, als ich ankomme. Und am nächsten Tag will ich auf`s Schiff. So ist

der Plan. Doch es kommt Wind auf. Es ist geradezu stürmisch. Die Schiffe fahren

nicht. Es ist sein Todestag. Ich will dahin, wo er zuletzt gewesen ist, aber

jetzt sitze ich fest. Also gehe ich runter an`s

Meer, ziehe die Kapuze fest und blicke herüber nach Juist, wo er zuletzt

gewesen ist. Trotz grauer Wolken sind die Umrisse der Insel, zu erkennen. Aber

in mir passiert nichts. Trauer? Begreifen? Fehlanzeige.

Die

Erkenntnis des Tages: Ein Ort ist nur ein Ort. Er bringt mich niemandem näher. Meine

Frau und meine Tochter sind mir nah, obwohl sie kilometerweit weg sind. Bin ich

dafür so weit gefahren, um das zu spüren? Manche Freunde sind mir nah, wenn wir

uns schreiben oder sehen. Mein Bruder ist mir nah, wenn ich seine Familie

besuche. Ich erinnere mich an die Beerdigung. An seine Freundinnen und Freunde.

Das geht mir nah. Da kriege ich Gänsehaut. Immer noch.

Auf

Juist sind wie nie gemeinsam gewesen. Vielleicht liegt es daran. Uns verbinden andere

Orte. Unser Zuhause und die Orte, wo wir als Kinder zusammen Urlaub gemacht

haben. Aber das hier am Stand von Norddeich? Es bleibt mir fremd.

Dann

fahre ich über ziemlich leere Autobahnen zurück zu meinen Lieben. So schön, ein

Zuhause zu haben, eine Familie, Freundinnen und Freunde. Nichts davon ist

selbstverständlich. Ich bin am Leben. Nicht mal das ist selbstverständlich. Ich

danke Gott dafür. Und wenn ich so denke, wie schnell alles vorbei sein kann, frage

ich mich wieder mal: Wer will ich sein? Bin ich das? Mit wem möchte ich leben?

Tue ich das? Das tun, was zu mir passt. Etwas bedeuten im Leben der Anderen. Das

ist das Wichtigste, oder? Wenn ich das begreife, hat sich der weite Weg nach

Norden vielleicht doch gelohnt.

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

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  • 15.1.2022
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