Ich
bin einfach losgefahren. Ich will da unbedingt hin. Ganz in den Norden auf die
Insel Juist. Mein Bruder hatte damals eine schwere Herz-OP hinter sich. Es war Januar,
ungefähr um diese Zeit im Jahr, da habe ich ihn zuletzt im Krankhaus gesehen.
Dann hat er noch eine Reha gemacht. Die Tour nach Juist mit seinen besten
Freunden war lange geplant. Er war immer noch schwach, aber er ist mitgefahren.
Und dann, am Mittwoch, nachmittags auf dem Sofa, hat sein Herz aufgehört, zu
schlagen.
Es
fällt mir immer noch schwer, das zu begreifen. Also bin ich losgefahren. Als
müsste ich das mit dem Begreifen irgendwie nachholen. 370 km Richtung Norden. Ich
übernachte, als ich ankomme. Und am nächsten Tag will ich auf`s Schiff. So ist
der Plan. Doch es kommt Wind auf. Es ist geradezu stürmisch. Die Schiffe fahren
nicht. Es ist sein Todestag. Ich will dahin, wo er zuletzt gewesen ist, aber
jetzt sitze ich fest. Also gehe ich runter an`s
Meer, ziehe die Kapuze fest und blicke herüber nach Juist, wo er zuletzt
gewesen ist. Trotz grauer Wolken sind die Umrisse der Insel, zu erkennen. Aber
in mir passiert nichts. Trauer? Begreifen? Fehlanzeige.
Die
Erkenntnis des Tages: Ein Ort ist nur ein Ort. Er bringt mich niemandem näher. Meine
Frau und meine Tochter sind mir nah, obwohl sie kilometerweit weg sind. Bin ich
dafür so weit gefahren, um das zu spüren? Manche Freunde sind mir nah, wenn wir
uns schreiben oder sehen. Mein Bruder ist mir nah, wenn ich seine Familie
besuche. Ich erinnere mich an die Beerdigung. An seine Freundinnen und Freunde.
Das geht mir nah. Da kriege ich Gänsehaut. Immer noch.
Auf
Juist sind wie nie gemeinsam gewesen. Vielleicht liegt es daran. Uns verbinden andere
Orte. Unser Zuhause und die Orte, wo wir als Kinder zusammen Urlaub gemacht
haben. Aber das hier am Stand von Norddeich? Es bleibt mir fremd.
Dann
fahre ich über ziemlich leere Autobahnen zurück zu meinen Lieben. So schön, ein
Zuhause zu haben, eine Familie, Freundinnen und Freunde. Nichts davon ist
selbstverständlich. Ich bin am Leben. Nicht mal das ist selbstverständlich. Ich
danke Gott dafür. Und wenn ich so denke, wie schnell alles vorbei sein kann, frage
ich mich wieder mal: Wer will ich sein? Bin ich das? Mit wem möchte ich leben?
Tue ich das? Das tun, was zu mir passt. Etwas bedeuten im Leben der Anderen. Das
ist das Wichtigste, oder? Wenn ich das begreife, hat sich der weite Weg nach
Norden vielleicht doch gelohnt.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
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