Autorin: Es gibt sie, die Momente im Leben, in denen sich etwas
löst, was uns zuvor ungut fest im Griff hatte. Dann fühlen wir uns erlöst,
leichter. So geht es wohl vielen von uns nach dem scheinbar ewig währenden
Coronawinter. Die Lockerungen und das bessere Wetter ermöglichen wieder mehr
Begegnungen. Erlöst: So fühle ich mich, wenn es nach einer Auseinandersetzung
endlich zur Aussprache kommt. Versöhnung steht im Raum, die gut tut. Ein
anderer ist erleichtert, wenn die Kontrolluntersuchung bei der Ärztin gut ausgeht.
Dann wird der Raum weit. Es gibt plötzlich neue Möglichkeiten, die vorher nicht
sichtbar waren.
Einer,
der den Raum der Menschen weit machte, sie aus engen Grenzen löste, war Jesus.
Für mich als Christin sind die erlösenden Erfahrungen meines Lebens mit ihm
verbunden. An sein Leben und an seinen Tod erinnere ich mich heute, an
Karfreitag.
Musik 2: „O Haupt
voll Blut und Wunden“, CD Ecce Vita. Choral, Lyrik, Jazz, Arrangements: Dieter Nett, Komposition:
Erhard Ufermann, Track 7, FFFZ, 1998 (Eigenproduktion)
Autorin: Die Passion, Christi Leiden
und Tod am Kreuz, ist ein Teil der christlichen Tradition, mit der viele
Menschen Probleme haben. Denn das Kreuz ist nicht bloß symbolisch, sondern
wirklich, blutig. Jesus stirbt als gebrochener Mensch, totgeschunden, unter
diesem Himmel, in Jerusalem auf der Schädelstätte. Wie passt ein solcher Tod zu
einem, der barmherzig war? Ist das nicht ein grausamer Gott, der seinen Sohn so
sterben lässt?
Wer im Neuen Testament nach einem Grund für Jesu Tod
sucht, stößt auf eine Fülle von Aussagen und Bildern. (1) In allem wird
deutlich, dass Jesus den Tod auf sich nimmt, weil es der Weg der Liebe ist; der
Liebe zu Gott und den Menschen. Seiner Liebe, mit der er Frauen und Männer in
ihrer Not gesehen hat, sie geheilt hat, ihnen Ansehen gegeben hat. Diese Liebe
ist spürbar bis in seine Sprache hinein. Er hat „Worte des ewigen Lebens“ (Joh
6, 68), die nähren und ermutigen. Jesu Liebe erlöst. Sie heilt und befreit bis
in die letzte Konsequenz des Todes.
Karfreitag mutet uns auch nach 2000 Jahren das Unbegreifliche
zu: den Tod Jesu mit Herz und Kopf zusammenzubringen mit seiner erlösenden
Liebe. Der Schweizer Theologe Kurt Marti formuliert das in seinem Gedicht
„Ungrund“ (2) in poetischen Worten:
Sprecher:
Warum ich
Christ bin,
das, ach, läßt
sich erklären.
Nicht aber,
warum Du
der Christus
bist.
Ungrund Liebe.
Musik 2: „Jesus ist
kommen“, CD
Ecce Vita. Choral, Lyrik, Jazz, Arrangements: Dieter Nett, Komposition: Erhard Ufermann,
Track 5, FFFZ, 1998 (Eigenproduktion).
Autorin: Jesu
Liebe ist Teil der Erlösungsgeschichte Gottes mit den Menschen. Die biblischen
Erzählungen sind angefüllt mit befreienden Erfahrungen, die Frauen und Männer
mit ihrem Gott machen. Erlösung ist dabei sehr handgreiflich gemeint. Das
hebräische Wort dafür,
„ga ´al“, bezeichnet ursprünglich den Freikauf
aus der Sklaverei. Konkrete Not wird überwunden, das Leben verändert sich hin
zum Besseren. So wie bei Joseph und seinen Brüdern, die sich nach Schuld und
Jahren der Entfremdung wiedersehen und sich versöhnen. Oder bei der Errettung des
Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten. Endlich
frei und auf dem Weg ins verheißene Land!
In dieser Linie steht Jesu
Liebe zu den Menschen. Sie ist einzigartig, in seinem Leben und in seinem Tod. Sie
will Menschen retten. So wird Jesus mit dem griechischen Wort „soter, Retter“ benannt. Immer wieder heilt er Frauen,
Männer und Kinder; befreit sie von körperlichen Leiden und den Entbehrungen,
die mit der Krankheit verbunden sind. Er stillt den Blutfluss einer Frau, die
über viele Jahre ausgeschlossen war. Wer sie liebte, musste sie meiden. Jesus ent-bindet
Menschen aus Bezügen, die sie am Leben hindern. Er sieht, wie sich der reiche Zöllner
Zachäus nach einem anderen Leben sehnt und lädt sich bei ihm ins Haus ein. Wer
weiß, worüber sie reden. Zachäus findet den Mut umzudenken. Er bricht neu auf. Er
gehört wieder dazu.
Musik 3: „Jesu
meine Freude“, CD Ecce Vita. Choral, Lyrik, Jazz, Arrangements: Dieter Nett, Konzeption:
Erhard Ufermann, Track 9, FFFZ, 1998 (Eigenproduktion)
Autorin: Das,
was Menschen löst und heil werden lässt, ist konkret. Jesus handelt den
Menschen zu Gute, auch wenn dies gegen geltende Normen oder gesellschaftliche
Verabredungen verstößt. Das bringt ihm Feinde ein. Soviel Hingabe gefährdet die
geordneten Strukturen. Einer Frau wird der Ehebruch vorgeworfen. Er bewahrt sie
vor der Steinigung. Mit einem einzigen Satz durchbricht er das geltende Recht.
„Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“
So gelingt Widerstand. Solche
Liebe hinterfragt Hierarchien. Wie in der Erzählung vom barmherzigen Samariter,
ein Verbrechen auf der Straße von Jericho nach Jerusalem. Der überfallen wurde,
liegt schwer verletzt am Straßenrand. Wer geht vorbei und wer hilft? Hier zeigt
Jesus, was Barmherzigkeit für ihn bedeutet: sehen, hinschauen und helfen, ohne
Zögern, ohne Gedanken zu gesellschaftlichem Stand. Jesu Liebe ist ohne wenn und
aber.
Bis in den Weg von
Verhaftung, Geißelung und Tod bleibt er dieser Liebe treu. Nach dem Verhör
durch den Prokurator des Römischen Reiches, Pontius Pilatus, ruft dieser
doppelsinnig aus: „Ecce Homo!“, „Was für ein Mensch“!
Sprecherin: (3)
Weniger als
die Hoffnung auf ihn
das ist der
Mensch
einarmig
Immer
Nur der
gekreuzigte
beide Arme
weit offen
der
Hier-Bin-Ich
Autorin:
Die Lyrikerin Hilde Domin stellt uns den Gekreuzigten in ihrem Gedicht als
hingebungsvoll Liebenden vor Augen. Sicher ist ihr bewusst, dass ein Mann in
dieser Situation niemanden umarmen kann. Sie spricht eine tiefere Wahrheit an.
Dieser verrückte Wanderprediger ist davon erfüllt, ganz bei den Menschen zu
sein, ganz zu sein. Bis in den Tod.
In wenigen, gezielten
Worten setzt Hilde Domin uns mit ins Bild, unter das Kreuz. Als begrenzte
Menschen sind wir im Blickfeld. Karfreitag werden wir erinnert, dass alle
unsere Unzulänglichkeiten, unsere Seelennot, unsere Ängste, einen Raum haben
unter diesem Kreuz. Das Leiden der Welt, Krieg, Hass, Zerstörung werden hier sichtbar.
Was Kummer macht, uns quält, die Vernarbungen unseres Lebens, hier am Kreuz werden
sie mit liebenden Augen gesehen. Gott weiß darum, dass wir versuchen zu
vergeben und wie schwer es sein kann. Gott sieht uns, wenn abends das Bier
aufgemacht wird, um zu vergessen. Gott erkennt uns, wenn wir Streit suchen,
obwohl wir eigentlich traurig sind. Gott ist da, wenn wir Bilder vom Krieg
sehen, und die Angst kommt. Erlösung geschieht nicht da, wo wir mit Gott eins
werden. Sondern sie geschieht dort, wo Gott uns ansieht und uns nahe ist. Gott,
der in seinem Sohn um dieser Welt willen leidet, macht uns klar: wir sind bei
Gott gelitten. Gott leidet an uns einarmigen, halbherzigen Menschen. Doch Gott
kann uns auch leiden. Im Schatten des Kreuzes sind wir Einarmigen ganz gesehen.
Musik 4: „Ist Gott
für mich“,
CD Ecce Vita. Choral, Lyrik, Jazz, Arrangements: Dieter Nett, Komposition:
Erhard Ufermann, Track 6, FFFZ, 1998 (Eigenproduktion)
Autorin: So vieles macht uns
deutlich, dass wir in einer unerlösten Welt leben: Die Pandemie mit den vielen
Verstorbenen, den Folgen, die sie bei den Jugendlichen hinterlässt, bei denen,
die gesundheitlich länger leiden; der Krieg in der Ukraine, der trotz hartnäckiger
diplomatischer Versuche nicht verhindert werden konnte; die vielen Menschen
weltweit auf der Flucht. Die Not ist groß, Frieden ist fragil. Der Theologe
Dietrich Bonhoeffer schreibt 1944 im Gefängnis unter den bedrückenden
Erfahrungen des 2. Weltkrieges sein Gedicht „Christen und Heiden“. Er verbindet
die Leiden Christi mit den Leiden dieser Welt. Seine Worte klingen tröstend
hinein in das Ungelöste unserer Zeit.
Sprecher: (4)
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.
Menschen gehen zu Gott, in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und
Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinem Leiden.
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.
Musik 5: „Ist Gott
für mich“,
CD Ecce Vita. Choral, Lyrik, Jazz, Arrangements: Dieter Nett, Komposition:
Erhard Ufermann, Track 6, FFFZ, 1998 (Eigenproduktion)
Autorin:
Jesu Liebe erlöst, indem sie Menschen in ihrer Not sieht und ihnen neue
Möglichkeiten eröffnet. Eine der schönsten Erlösungsgeschichten für mich ist
die von Bartimäus. Der Evangelist Markus erzählt:
Sprecher: „Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho hinausging, er und
seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege,
Bartimäus, der Sohn des Timäus. Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth
war, fing er an zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich
meiner! Und viele fuhren ihn an, er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel
mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
Und Jesus
blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen
zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich! Da warf er seinen Mantel von sich,
sprang auf und kam zu Jesus. Und Jesus antwortete ihm und sprach: Was willst
du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, (mein
Lehrer), dass ich sehend werde. Und Jesus sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube
hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem
Wege.“ (5)
Musik 6: „Befiehl
Du deine Wege“, CD Ecce Vita. Choral, Lyrik, Jazz, Arrangements: Dieter Nett, Komposition:
Erhard Ufermann, Track 14, FFFZ, 1998 (Eigenproduktion)
Autorin:
Bartimäus sitzt abseits des Weges und sieht als blinder Mann mehr, als Jene,
die Jesus auf dem Weg folgen. Er erkennt in Jesus den königlichen Menschen aus
Davids Geschlecht. Der, der gekommen ist zu dienen und das Verlorene zu suchen.
Bartimäus glaubt daran, dass sein Leben eine Wendung nehmen kann. Dieser Glaube
ist seine Rettung.
So wirft er seinen Mantel
von sich, springt auf und geht zu Jesus. Mit dem Bettlergewand legt er die Last
des alten Lebens ab, das er hinter sich lassen will. (6) Er steht auf und steht
ein für seinen Wunsch, dass es anders wird. Jesus begegnet ihm mit echtem
Interesse: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ „Das ich sehend werde!“
Und so geschieht es. Bartimäus kann wieder sehen und er kann neu sehen. Einen
anderen Weg einschlagen, das Festgefahrene verlassen. Für Bartimäus beginnt ein
neues Leben im Leben.
Als Christinnen und
Christen haben auch wir die Chance unser Leben stets neu in den Blick zu
nehmen. Uns aus Verstrickungen heraus zu ent-wickeln in ein freies Leben. Zu
sehen, wer wir sein könnten. Durch die Liebe Jesu sind wir
Möglichkeitsmenschen. Das Kreuz Christi erinnert uns heute daran. Der Apostel
Paulus formuliert dazu im 2. Korintherbrief einen prägenden Satz:
Sprecher: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist
vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (7)
Autorin: Jesu
konsequente Liebe bis in den Tod lädt ein zu einem Leben, in dem wir aufstehen
gegen das, was hindert. Ein Leben, in dem Neues werden kann, in dem wir neu
werden können. Wenn wir uns aus einer toxischen Beziehung lösen, uns
entwickeln. Wenn wir verloren gegangene Gaben ans Licht bringen, sie für Andere
einsetzen. Wenn wir uns nicht klein machen, aufhören unser Licht unter den
Scheffel zu stellen und als von Gott gesehener Mensch aufgerichtet durchs Leben
gehen. Christus befreit aus alten Mustern, lässt uns die Leiden der Welt
wahrnehmen und das Not-wendige tun.
Wir stehen ein für eine
bessere Welt, in diesen Wochen an so vielen Orten bei Friedensdemonstrationen
auf den Straßen und Friedensgebeten in den Kirchen. Wir finden als erlöste
Menschen kreative Lösungen für ein besseres, gerechteres Leben.
Musik 7: „Sonne der
Gerechtigkeit“, CD Ecce Vita. Choral, Lyrik, Jazz, Arrangements: Dieter Nett, Komposition:
Erhard Ufermann, Track 11, FFFZ, 1998 (Eigenproduktion)
Autorin: Unter
dem Kreuz Christi sind wir gelitten. In
Jesu Liebe sind wir erlöst. Eine Liebe, die um unsere Nöte weiß und gerade
darin das Leben frei macht.
Sprecher: (8)
Jesses!
Du so.
Du anders.
Du nicht.
Du doch.
Dein Leib.
Deine Worte.
Was weiß ich.
Was soll ich.
Komm glaub
mit mir.
Komm geh
mit uns.
Autorin: So
noch einmal Kurt Marti. Glauben Sie mit? Gehen Sie mit? Einen gesegneten
Karfreitag wünscht Ihnen Susanne Wolf, Pfarrerin aus Wuppertal.
Quellen und Literaturangaben für VG Wort:
1. Vgl. Leidenschaft
für uns. Orientierungshilfe des Ständigen Theologischen Ausschusses der
Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf 2010, 25.
2.
Kurt Marti, O GOTT! Essays und Meditationen, Stuttgart 1986, 113.
3.Hilde
Domin, Gesammelte Gedichte, Frankfurt/Main 1987, 345.
4.
Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Die Gedichte, hg. von Gotthard Fermor, Gütersloh
2020, 36.
5. Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Revidiert
2017, Jubiläumsausgabe, 56-57.
7. Vgl. Nico ter Linden, Es
wird erzählt… Markus und Matthäus sehen die Geschichte Jesu, Band 2, Gütersloh
1999, 123f.
7. Die Bibel, siehe 5., 210.
8.
Kurt Marti, aaO., 90.
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth