Autor: Viele
Kerzen werden heute in unseren Kirchen entzündet. Heute ist der Gedenktag für
die Verstorbenen, der Totensonntag oder Ewigkeitssonntag. Viele
Kirchengemeinden laden dazu die Angehörigen der Verstorbenen ein, im
Gottesdienst werden ihre Namen verlesen und für jeden einzelnen wird eine Kerze
entzündet.
Auch ich bin mit meiner
Familie in diesem Jahr zu diesem Gedenken eingeladen und es wird der Name
meiner Mutter verlesen: Magdalene Rieske, geborene Klatt, verstorben im Alter
von 81 Jahren. Ich werde intensiv an sie denken. Und nicht nur dies. Es ist ein
besonderer Moment, wenn jemand anderes öffentlich an meine Mutter erinnert, vor
und mit vielen anderen in Respekt und Wertschätzung ihren Namen nennt und
zeigt, dass sie nicht vergessen wird. Ihre Würde bleibt. Die Erinnerung lebt
fort in uns, die wir an sie denken, um sie trauern.
Ich habe selbst als Pfarrer oft
Namen von Verstorbenen verlesen und weiß, dass manche Hinterbliebene intensiv
darauf warten, bis in der chronologisch sortierten Reihe der Namen ihr geliebter
Mensch verlesen wird. Ich denke daran, wie ich beim Gedenken für die
Verstorbenen eines tragischen Unglücks ein lautes Weinen der Mutter höre, als
der Name ihres verunglückten Sohnes verlesen wird. Das werde ich nie vergessen.
Sprecherin: Und nun spricht der HERR, der dich
geschaffen hat, und dich gemacht hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich
erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Denn ich bin der
HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. So fürchte dich nun nicht,
denn ich bin bei dir.
Autor: Der
Name eines Menschen gehört zu ihm über den Tod hinaus. Weil wir Menschen Namen
tragen, hat unsere Erinnerung einen Anker. Und Gott offenbar auch: Ich habe
dich bei deinem Namen gerufen, heißt es beim Propheten Jesaja, und deswegen
gilt: Fürchte Dich nicht. Ich meine wirklich Dich: Du bist mein!
Musik 1: Tears in Heaven
(Piano)
Titel: Tears In Heaven; Komposition:
Eric Clapton & Will Jennings; Interpret: David Schultz; Album: Piano Love
Songs; Label: 2019 Piano Tribute Records; LC: unbekannt.
Autor: Ein
Name ist wie ein starker Pfahl, an dem die Erinnerung ihr Tau festmachen kann.
Manchmal sagt ein Namenswechsel etwas über die Lebensgeschichte. Meine Mutter
wurde im März 1941 im damaligen Westpreußen geboren als Tochter der Bauernfamilie
Klatt. Sie wuchs auf dem Gut und in den Feldern auf, die ihr Vater von seinen
Eltern übernommen hatte. Oft hat sie erzählt, was sie dort erlebt hat. Noch
einige Monate vor ihrem Tod hat sie mir ein polnisches Kinderlied vorgesungen
und von den Spielen erzählt, bei denen sie als Kind mitgemacht hat. Aber sie
hat in der Kriegszeit auch viel Schlimmes erlebt. Ihr Vater, mein Opa, war
Soldat und im Krieg. Ihre Mutter, meine Oma, war Bäuerin, führte den Hof,
bestellte die Felder und blieb über das Kriegsende hinaus mit den Töchtern in
ihrem Haus. Dort haben sie erlebt, wie russische Soldaten auf ihren Bauernhof
kamen und betrunken in die Decke schossen. Nie wieder wollte meine Mutter in
das Haus ihrer Kindheit zurück.
Aber es steht noch. Ich war
da. Ich habe es im Mai wiedergefunden und wiedererkannt. Ich war in Polen. Wir
haben uns mit meinen beiden großen Söhnen auf Spurensuche gemacht nach unserer
Familiengeschichte. Mit Hilfe eines Fotoalbums, das mein Cousin Thaddeus vor
einigen Jahren angelegt hat, haben wir den Hof meiner Großeltern und das
Geburtshaus meiner Mutter gefunden.
Es ist noch da. Und wird
gerade renoviert. Wieder wird eine Familie einziehen. Mitten in den fruchtbaren
Hügeln des Rippiner Landes steht das Haus, als hätte meine Mutter es gestern erst
verlassen. Und ich habe auf der Schwelle gestanden und am Brunnen, aus dem
meine Oma geschöpft hat, diese Welt auf mich wirken lassen. Ganz in der Nähe,
zwischen Hügeln, blinkt dunkelgrün und friedlich der kleine See, von dem mir
meine Oma an meinem Kinderbett oft erzählt hat. Sie saß da und erzählte über
Stunden von ihrem Leben in Polen. Wie fischreich der See gewesen ist, und wie
sie den Knecht geschickt hat, um Fische zu holen, die sie dann für alle zubereitet
hat.
Es hat mich sehr berührt, an
diesem Ort zu stehen, der mir fremd und doch ganz vertraut war. Wo ich die
Wurzeln meiner Familie gespürt habe, auf dem Boden, in den viel Schweiß und
Tränen meiner Großeltern und Urgroßeltern geflossen sind. Ich habe begriffen,
von wo sie gekommen sind und welchen weiten Weg meine Oma mit ihren Töchtern
zurückgelegt hat, bis sie als Flüchtlinge in Bielefeld meinen Opa wiedergetroffen
haben.
Ich habe Steine von diesem
Grundstück mitgebracht. Einer ist bei mir; einen hat meine Tante bekommen, die
Schwester meiner Mutter, meine Patentante. Und einen hält meine Mutter in
Händen. Sie hat ihn mitgenommen ins Grab, einen Stein von ihrem Geburtshaus.
Was folgt aus solchen
Erinnerungen? Bleiben sie nur in unseren Herzen, wo sie uns diese Verbindung
spüren lassen, vielleicht auch Kraft geben wie ein alter Baum? Ich empfinde es
so. Erinnerungen geben mir Kraft, sie bauen mich auf und ich nehme sie mit in
die Zukunft.
Musik 2: anytime, anywhere
Titel:
anytime, anywhere; Komposition/Interpret: NILS LANDGREN FUNK UNIT; Album: Fonk Da World; Label: Act (Edel); LC: 85387.
Autor: Szenenwechsel:
Ich war vor einigen Tagen auf der Feuerwache in dem kleinen Rheinort Wesseling
nahe bei Köln. Ein alter Kontakt hatte mich hergeführt. Und Justin, der
Feuerwehrmann begrüßte mich und zeigte uns stolz den neuen Container der Feuerwache
Wesseling. Er steht dort in der Fahrzeughalle hinter den großen Toren, durch
die bei Notrufen die großen Fahrzeuge mit Blaulicht und Martinshorn ausrücken.
Neben dem Löschfahrzeug, dem Rettungswagen, dem Mannschaftswagen steht leuchtend
hellrot ein neuer Container, der erst vor wenigen Wochen eingeweiht wurde. Öffnet
man seine Tür, sieht man Stühle und einen fest montierten ovalen Tisch und
einige Schränke. Es wirkt nüchtern, aber erstaunlich behaglich. Man kann diesen
Container als mobilen Besprechungsraum nutzen. Dieses neue Einsatzgerät der
Feuerwehr heißt „Sven Fischenich“. Also nicht Florian 18 oder
Mehrzweckfahrzeug, sondern auch über Funk und im Lautsprecher der Wache heißt
dieser Container „Sven Fischenich“. Es ist der Name eines Feuerwehrmanns, der
2015 bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben kam. Sven Fischenich war
einer von jenen, die in der Germanwings-Maschine saßen, die im März 2015 in den
französischen Alpen abstürzte. Seine Kameraden hat dieser Tod sehr getroffen. Sie
sind mit seiner Familie weiterhin verbunden. Haben eine Vitrine eingerichtet, darin
stehen der Feuerwehrhelm von Sven und ein Bild von ihm. Und der kleine
Holzengel, den die Angehörigen bei der Gedenkfeier im Kölner Dom erhalten
haben, der steckt da im Helm von Sven. Und nun gibt es einen Container, der für
belastende Einsätze einen Gesprächsraum anbietet. Für die Kameraden von Sven. Und
er trägt den Namen des Feuerwehrmanns, der bei seiner Löscheinheit auch nach
sieben Jahren unvergessen ist.
Musik 2: anytime, anywhere
Autor: Die Macht der Erinnerung: Mich hat diese Form des
Gedenkens sehr beeindruckt, weil dieser Name eines verstorbenen Feuerwehrmanns
nun fortlebt als Angebot für seine Kameraden, wenn sie einen Raum zum
Durchschnaufen suchen. Oder weil ein Einsatz, bei dem Menschen gestorben sind,
auch sie stark betrifft. Wenn sie mit dem Leid von Menschen konfrontiert werden
und selbst belastet werden, weil sie helfen wollten, aber mit ihren
Möglichkeiten nicht retten konnten. Feuerwehrleute arbeiten immer im Team. Wenn
ein Fahrzeug brennt und jemand darin eingeklemmt ist, geben sie alles, um
Menschen zu retten. Nach solchen Einsätzen braucht es Raum für ein Nachgespräch.
Oft sind auch Mitarbeitende der Notfallseelsorge beteiligt. Dann ist ein Raum
gut, wo man erschöpft sein darf. Wo auch Tränen nicht stören. Dieser neue
mobile Container bietet ihn an. Was für ein Beispiel für die Kraft der
Erinnerung, die aus der Vergangenheit Kraft für die Zukunft und für besondere
Herausforderungen schöpft.
Musik 3: Winter came early
Titel:
Winter came early; Interpret: Mo‘ Blow, Komponist: Tobias Fleischer, CD: Gimme
the Boots, Track 10, Label: ACT Music + Vision GmbH & Co. KG, LC: 85387.
Sprecherin:
Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner
Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen
will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir
einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.
Autor: Von Abraham ist hier die Rede, dem Nomaden, an dessen
Weg das Volk Israel sich seit über zweitausend Jahren erinnert. Enorm, wie
lange die Erfahrungen und Geschichten dieser biblischen Gestalten nachwirken.
Und dies weltweit in drei Religionen, im Judentum, in den christlichen Kirchen
und im Islam auch. Abraham wird auf einen Weg geschickt: Brich auf, sagt Gott. „Geh
aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause
in ein Land, das ich dir zeigen will.“ Und Gott verspricht Abraham nicht nur,
dass er ihm das noch unbekannte Ziel dieses Weges zeigen wird, der ihn aus den
Grenzen seiner bisherigen Welt hinausführt. Abraham verlässt sein Leben, seine
Geschichte, alles, was ihm vertraut war. Weit wird der Weg. Viele hundert
Kilometer weit. Zu Fuß. Und Gott sagt Abraham zu, dass auf diesem Weg Segen
ruht: „Ich will Dich segnen und Du sollst ein Segen sein!“
Geht das, dass Menschen für
andere zum Segen werden? Ich denke zurück an die Fluchterfahrungen meiner
Eltern. Sie waren Flüchtlingskinder, die mit ihren Eltern alles verließen, was
ihnen bis dahin vertraut war. Wie viele Menschen haben ihnen geholfen auf ihrer
Flucht, 800 Kilometer nach Westen unter ständig neuen Gefahren und
Entbehrungen. Und was ließen sie zurück?
Meine Großtante, die noch vor
meiner Mutter geflohen ist, war ein neunjähriges Mädchen, als sie die Flucht
aus Westpreußen, aus Borzymin antrat. Man sagte ihr damals, dass sie ihr
Zuhause nie wieder sehen wird. Sie hat sich den Hof mit allem, was dazugehört, genau
einprägt, sie hat ihn aufgemalt und auch später im Westen immer wieder die
Häuser gemalt, die sie in Polen zurückgelassen hatten. Sie wollte sie nicht
vergessen. Und dann stand sie mit meinem Vater bei einer Reise nach Polen 1987
wieder vor ihrem Haus.
Musik 3: Winter came early
Autor: Ich will Dich segnen und Du sollst ein Segen sein. Die
Geschichten, die uns begleiten, die wir erinnern, werden erzählt an neuen, an
anderen Orten. Und sie stellen Fragen: Gibt es Menschen, die für uns ein Segen
sind oder es waren? Die uns in besonderen Zeiten begleitet und unterstützt
haben, uns ermutigt haben und Kraft gaben? Mir fallen viele ein, die auf meinem
Weg ein Segen waren.
Meine Mutter, die wir in
diesem Jahr im Juni beerdigt haben, gehört dazu. Es wird mich bewegen, wenn
nachher im Gottesdienst ihr Name verlesen wird. Denn damit ist auch präsent,
dass sie mir das Leben geschenkt hat, mich unterstützt und begleitet hat in so
unzähligen Situationen. Bei der Einschulung und später bei der Suche nach der
Weiterführenden Schule. Bei dem Schmerz, als meine erste große Liebe
vorüberging. Ich sehe meine Mutter, wie sie in unserer Reihenhaussiedlung am
Rand des kleinen Fußballplatzes steht. Hier haben wir in der Grundschule unsere
Klassenspiele ausgetragen. Leider haben wir oft verloren und nicht selten
musste sie den kleinen Torwart, ihren Sohn trösten. Und ich sehe sie, wie sie später
infolge ihrer schweren Erkrankung im Krankenbett liegt. In den letzten Jahren
konnte sie ihr Bett nur noch mit Hilfe verlassen und saß im Rollstuhl. Aber ich
sehe ihr Lächeln, das sie im Gesicht hatte, wenn ich sie besuchte. Mit großer Geduld
hat sie ihre Krankheit ertragen und immer gestrahlt, wenn wir gekommen sind.
Dieses Lächeln begleitet
mich. Weil darin Liebe ist. Weiterhin. Auch in dem Container, der den Namen
eines Feuerwehrmannes trägt, ist Liebe, die weiterwirkt. Etwas anbietet.
Menschen in den Blick nimmt. Und etwas aufbaut. Diese Liebe endet nicht mit dem
Tod, sie wächst und wird stärker mit der Erinnerung.
In jeder Kerze, die heute am
Totensonntag angezündet wird in der Erinnerung für einen verstorbenen Menschen,
steckt Liebe. Du bist nicht vergessen, sagt die Liebe. Und in der Erinnerung an
Dich steckt große Kraft, die ich nun mitnehme in mein Leben, auf meinen Weg.
Als Verpflichtung. Als Empathie. Als Engagement. Vielleicht, nein ganz bestimmt
wirkt er weiter, der Segen, der mir durch Dich zuteilwurde. Und ich möchte
dieser Kraft nicht im Wege stehen, sondern Teil von ihr werden.
Aus Bonn grüßt Sie
Pfarrer Uwe Rieske,
Militärdekan in Nörvenich
Musik 4: warm inside
Titel: Warm inside, Komponist:
Leena Conquest, Marcus Fuereder & Jared Booty; Interpret: Parov Stelar;
Album: Seven and Storm; Label: Etage Noir (Rough Trade); LC: 29737.
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth