Die Macht der Erinnerung

Das geistliche Wort | 20.11.2022 | 00:00 Uhr

Autor: Viele

Kerzen werden heute in unseren Kirchen entzündet. Heute ist der Gedenktag für

die Verstorbenen, der Totensonntag oder Ewigkeitssonntag. Viele

Kirchengemeinden laden dazu die Angehörigen der Verstorbenen ein, im

Gottesdienst werden ihre Namen verlesen und für jeden einzelnen wird eine Kerze

entzündet.

Auch ich bin mit meiner

Familie in diesem Jahr zu diesem Gedenken eingeladen und es wird der Name

meiner Mutter verlesen: Magdalene Rieske, geborene Klatt, verstorben im Alter

von 81 Jahren. Ich werde intensiv an sie denken. Und nicht nur dies. Es ist ein

besonderer Moment, wenn jemand anderes öffentlich an meine Mutter erinnert, vor

und mit vielen anderen in Respekt und Wertschätzung ihren Namen nennt und

zeigt, dass sie nicht vergessen wird. Ihre Würde bleibt. Die Erinnerung lebt

fort in uns, die wir an sie denken, um sie trauern.

Ich habe selbst als Pfarrer oft

Namen von Verstorbenen verlesen und weiß, dass manche Hinterbliebene intensiv

darauf warten, bis in der chronologisch sortierten Reihe der Namen ihr geliebter

Mensch verlesen wird. Ich denke daran, wie ich beim Gedenken für die

Verstorbenen eines tragischen Unglücks ein lautes Weinen der Mutter höre, als

der Name ihres verunglückten Sohnes verlesen wird. Das werde ich nie vergessen.

Sprecherin: Und nun spricht der HERR, der dich

geschaffen hat, und dich gemacht hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich

erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Denn ich bin der

HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. So fürchte dich nun nicht,

denn ich bin bei dir.

Autor: Der

Name eines Menschen gehört zu ihm über den Tod hinaus. Weil wir Menschen Namen

tragen, hat unsere Erinnerung einen Anker. Und Gott offenbar auch: Ich habe

dich bei deinem Namen gerufen, heißt es beim Propheten Jesaja, und deswegen

gilt: Fürchte Dich nicht. Ich meine wirklich Dich: Du bist mein!

Musik 1: Tears in Heaven

(Piano)

Titel: Tears In Heaven; Komposition:

Eric Clapton & Will Jennings; Interpret: David Schultz; Album: Piano Love

Songs; Label: 2019 Piano Tribute Records; LC: unbekannt.

Autor: Ein

Name ist wie ein starker Pfahl, an dem die Erinnerung ihr Tau festmachen kann.

Manchmal sagt ein Namenswechsel etwas über die Lebensgeschichte. Meine Mutter

wurde im März 1941 im damaligen Westpreußen geboren als Tochter der Bauernfamilie

Klatt. Sie wuchs auf dem Gut und in den Feldern auf, die ihr Vater von seinen

Eltern übernommen hatte. Oft hat sie erzählt, was sie dort erlebt hat. Noch

einige Monate vor ihrem Tod hat sie mir ein polnisches Kinderlied vorgesungen

und von den Spielen erzählt, bei denen sie als Kind mitgemacht hat. Aber sie

hat in der Kriegszeit auch viel Schlimmes erlebt. Ihr Vater, mein Opa, war

Soldat und im Krieg. Ihre Mutter, meine Oma, war Bäuerin, führte den Hof,

bestellte die Felder und blieb über das Kriegsende hinaus mit den Töchtern in

ihrem Haus. Dort haben sie erlebt, wie russische Soldaten auf ihren Bauernhof

kamen und betrunken in die Decke schossen. Nie wieder wollte meine Mutter in

das Haus ihrer Kindheit zurück.

Aber es steht noch. Ich war

da. Ich habe es im Mai wiedergefunden und wiedererkannt. Ich war in Polen. Wir

haben uns mit meinen beiden großen Söhnen auf Spurensuche gemacht nach unserer

Familiengeschichte. Mit Hilfe eines Fotoalbums, das mein Cousin Thaddeus vor

einigen Jahren angelegt hat, haben wir den Hof meiner Großeltern und das

Geburtshaus meiner Mutter gefunden.

Es ist noch da. Und wird

gerade renoviert. Wieder wird eine Familie einziehen. Mitten in den fruchtbaren

Hügeln des Rippiner Landes steht das Haus, als hätte meine Mutter es gestern erst

verlassen. Und ich habe auf der Schwelle gestanden und am Brunnen, aus dem

meine Oma geschöpft hat, diese Welt auf mich wirken lassen. Ganz in der Nähe,

zwischen Hügeln, blinkt dunkelgrün und friedlich der kleine See, von dem mir

meine Oma an meinem Kinderbett oft erzählt hat. Sie saß da und erzählte über

Stunden von ihrem Leben in Polen. Wie fischreich der See gewesen ist, und wie

sie den Knecht geschickt hat, um Fische zu holen, die sie dann für alle zubereitet

hat.

Es hat mich sehr berührt, an

diesem Ort zu stehen, der mir fremd und doch ganz vertraut war. Wo ich die

Wurzeln meiner Familie gespürt habe, auf dem Boden, in den viel Schweiß und

Tränen meiner Großeltern und Urgroßeltern geflossen sind. Ich habe begriffen,

von wo sie gekommen sind und welchen weiten Weg meine Oma mit ihren Töchtern

zurückgelegt hat, bis sie als Flüchtlinge in Bielefeld meinen Opa wiedergetroffen

haben.

Ich habe Steine von diesem

Grundstück mitgebracht. Einer ist bei mir; einen hat meine Tante bekommen, die

Schwester meiner Mutter, meine Patentante. Und einen hält meine Mutter in

Händen. Sie hat ihn mitgenommen ins Grab, einen Stein von ihrem Geburtshaus.

Was folgt aus solchen

Erinnerungen? Bleiben sie nur in unseren Herzen, wo sie uns diese Verbindung

spüren lassen, vielleicht auch Kraft geben wie ein alter Baum? Ich empfinde es

so. Erinnerungen geben mir Kraft, sie bauen mich auf und ich nehme sie mit in

die Zukunft.

Musik 2: anytime, anywhere

Titel:

anytime, anywhere; Komposition/Interpret: NILS LANDGREN FUNK UNIT; Album: Fonk Da World; Label: Act (Edel); LC: 85387.

Autor: Szenenwechsel:

Ich war vor einigen Tagen auf der Feuerwache in dem kleinen Rheinort Wesseling

nahe bei Köln. Ein alter Kontakt hatte mich hergeführt. Und Justin, der

Feuerwehrmann begrüßte mich und zeigte uns stolz den neuen Container der Feuerwache

Wesseling. Er steht dort in der Fahrzeughalle hinter den großen Toren, durch

die bei Notrufen die großen Fahrzeuge mit Blaulicht und Martinshorn ausrücken.

Neben dem Löschfahrzeug, dem Rettungswagen, dem Mannschaftswagen steht leuchtend

hellrot ein neuer Container, der erst vor wenigen Wochen eingeweiht wurde. Öffnet

man seine Tür, sieht man Stühle und einen fest montierten ovalen Tisch und

einige Schränke. Es wirkt nüchtern, aber erstaunlich behaglich. Man kann diesen

Container als mobilen Besprechungsraum nutzen. Dieses neue Einsatzgerät der

Feuerwehr heißt „Sven Fischenich“. Also nicht Florian 18 oder

Mehrzweckfahrzeug, sondern auch über Funk und im Lautsprecher der Wache heißt

dieser Container „Sven Fischenich“. Es ist der Name eines Feuerwehrmanns, der

2015 bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben kam. Sven Fischenich war

einer von jenen, die in der Germanwings-Maschine saßen, die im März 2015 in den

französischen Alpen abstürzte. Seine Kameraden hat dieser Tod sehr getroffen. Sie

sind mit seiner Familie weiterhin verbunden. Haben eine Vitrine eingerichtet, darin

stehen der Feuerwehrhelm von Sven und ein Bild von ihm. Und der kleine

Holzengel, den die Angehörigen bei der Gedenkfeier im Kölner Dom erhalten

haben, der steckt da im Helm von Sven. Und nun gibt es einen Container, der für

belastende Einsätze einen Gesprächsraum anbietet. Für die Kameraden von Sven. Und

er trägt den Namen des Feuerwehrmanns, der bei seiner Löscheinheit auch nach

sieben Jahren unvergessen ist.

Musik 2: anytime, anywhere

Autor: Die Macht der Erinnerung: Mich hat diese Form des

Gedenkens sehr beeindruckt, weil dieser Name eines verstorbenen Feuerwehrmanns

nun fortlebt als Angebot für seine Kameraden, wenn sie einen Raum zum

Durchschnaufen suchen. Oder weil ein Einsatz, bei dem Menschen gestorben sind,

auch sie stark betrifft. Wenn sie mit dem Leid von Menschen konfrontiert werden

und selbst belastet werden, weil sie helfen wollten, aber mit ihren

Möglichkeiten nicht retten konnten. Feuerwehrleute arbeiten immer im Team. Wenn

ein Fahrzeug brennt und jemand darin eingeklemmt ist, geben sie alles, um

Menschen zu retten. Nach solchen Einsätzen braucht es Raum für ein Nachgespräch.

Oft sind auch Mitarbeitende der Notfallseelsorge beteiligt. Dann ist ein Raum

gut, wo man erschöpft sein darf. Wo auch Tränen nicht stören. Dieser neue

mobile Container bietet ihn an. Was für ein Beispiel für die Kraft der

Erinnerung, die aus der Vergangenheit Kraft für die Zukunft und für besondere

Herausforderungen schöpft.

Musik 3: Winter came early

Titel:

Winter came early; Interpret: Mo‘ Blow, Komponist: Tobias Fleischer, CD: Gimme

the Boots, Track 10, Label: ACT Music + Vision GmbH & Co. KG, LC: 85387.

Sprecherin:

Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner

Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen

will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir

einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.

Autor: Von Abraham ist hier die Rede, dem Nomaden, an dessen

Weg das Volk Israel sich seit über zweitausend Jahren erinnert. Enorm, wie

lange die Erfahrungen und Geschichten dieser biblischen Gestalten nachwirken.

Und dies weltweit in drei Religionen, im Judentum, in den christlichen Kirchen

und im Islam auch. Abraham wird auf einen Weg geschickt: Brich auf, sagt Gott. „Geh

aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause

in ein Land, das ich dir zeigen will.“ Und Gott verspricht Abraham nicht nur,

dass er ihm das noch unbekannte Ziel dieses Weges zeigen wird, der ihn aus den

Grenzen seiner bisherigen Welt hinausführt. Abraham verlässt sein Leben, seine

Geschichte, alles, was ihm vertraut war. Weit wird der Weg. Viele hundert

Kilometer weit. Zu Fuß. Und Gott sagt Abraham zu, dass auf diesem Weg Segen

ruht: „Ich will Dich segnen und Du sollst ein Segen sein!“

Geht das, dass Menschen für

andere zum Segen werden? Ich denke zurück an die Fluchterfahrungen meiner

Eltern. Sie waren Flüchtlingskinder, die mit ihren Eltern alles verließen, was

ihnen bis dahin vertraut war. Wie viele Menschen haben ihnen geholfen auf ihrer

Flucht, 800 Kilometer nach Westen unter ständig neuen Gefahren und

Entbehrungen. Und was ließen sie zurück?

Meine Großtante, die noch vor

meiner Mutter geflohen ist, war ein neunjähriges Mädchen, als sie die Flucht

aus Westpreußen, aus Borzymin antrat. Man sagte ihr damals, dass sie ihr

Zuhause nie wieder sehen wird. Sie hat sich den Hof mit allem, was dazugehört, genau

einprägt, sie hat ihn aufgemalt und auch später im Westen immer wieder die

Häuser gemalt, die sie in Polen zurückgelassen hatten. Sie wollte sie nicht

vergessen. Und dann stand sie mit meinem Vater bei einer Reise nach Polen 1987

wieder vor ihrem Haus.

Musik 3: Winter came early

Autor: Ich will Dich segnen und Du sollst ein Segen sein. Die

Geschichten, die uns begleiten, die wir erinnern, werden erzählt an neuen, an

anderen Orten. Und sie stellen Fragen: Gibt es Menschen, die für uns ein Segen

sind oder es waren? Die uns in besonderen Zeiten begleitet und unterstützt

haben, uns ermutigt haben und Kraft gaben? Mir fallen viele ein, die auf meinem

Weg ein Segen waren.

Meine Mutter, die wir in

diesem Jahr im Juni beerdigt haben, gehört dazu. Es wird mich bewegen, wenn

nachher im Gottesdienst ihr Name verlesen wird. Denn damit ist auch präsent,

dass sie mir das Leben geschenkt hat, mich unterstützt und begleitet hat in so

unzähligen Situationen. Bei der Einschulung und später bei der Suche nach der

Weiterführenden Schule. Bei dem Schmerz, als meine erste große Liebe

vorüberging. Ich sehe meine Mutter, wie sie in unserer Reihenhaussiedlung am

Rand des kleinen Fußballplatzes steht. Hier haben wir in der Grundschule unsere

Klassenspiele ausgetragen. Leider haben wir oft verloren und nicht selten

musste sie den kleinen Torwart, ihren Sohn trösten. Und ich sehe sie, wie sie später

infolge ihrer schweren Erkrankung im Krankenbett liegt. In den letzten Jahren

konnte sie ihr Bett nur noch mit Hilfe verlassen und saß im Rollstuhl. Aber ich

sehe ihr Lächeln, das sie im Gesicht hatte, wenn ich sie besuchte. Mit großer Geduld

hat sie ihre Krankheit ertragen und immer gestrahlt, wenn wir gekommen sind.

Dieses Lächeln begleitet

mich. Weil darin Liebe ist. Weiterhin. Auch in dem Container, der den Namen

eines Feuerwehrmannes trägt, ist Liebe, die weiterwirkt. Etwas anbietet.

Menschen in den Blick nimmt. Und etwas aufbaut. Diese Liebe endet nicht mit dem

Tod, sie wächst und wird stärker mit der Erinnerung.

In jeder Kerze, die heute am

Totensonntag angezündet wird in der Erinnerung für einen verstorbenen Menschen,

steckt Liebe. Du bist nicht vergessen, sagt die Liebe. Und in der Erinnerung an

Dich steckt große Kraft, die ich nun mitnehme in mein Leben, auf meinen Weg.

Als Verpflichtung. Als Empathie. Als Engagement. Vielleicht, nein ganz bestimmt

wirkt er weiter, der Segen, der mir durch Dich zuteilwurde. Und ich möchte

dieser Kraft nicht im Wege stehen, sondern Teil von ihr werden.

Aus Bonn grüßt Sie

Pfarrer Uwe Rieske,

Militärdekan in Nörvenich

Musik 4: warm inside

Titel: Warm inside, Komponist:

Leena Conquest, Marcus Fuereder & Jared Booty; Interpret: Parov Stelar;

Album: Seven and Storm; Label: Etage Noir (Rough Trade); LC: 29737.

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

  • 20.11.2022
  • Uwe Rieske
  • © Lotz