Guten Morgen!
Etwas abseits der Autobahn, 90 Kilometer südlich von der
Hafenstadt Durban in Südafrika, liegt die Nelson Mandela Capture Site, heute
eine nationale Gedenkstätte. Am 5. August 1962 wurde an dieser Stelle Nelson
Mandela verhaftet – der damalige Widerstandskämpfer gegen die weiße
Gewaltherrschaft. Die Polizei hatte einen Tipp bekommen: Mandela sei in der
Verkleidung eines Chauffeurs unterwegs. In der Nähe von Howick hielt die
Polizei das Auto an und nahm Nelson Mandela fest. Das war der Anfang von 27
Jahren in Gefängnissen. Erst im Februar 1990 wurde Nelson Mandela entlassen.
Und vier Jahre später wurde er nach freien und allgemeinen Wahlen der erste
schwarze Präsident Südafrikas.
Wenn man sich heute der Gedenkstätte nähert, kommt man
zunächst an Informationstafeln vorbei, die von dem Leben Mandelas erzählen.
Schritt für Schritt geht es weiter bis zu einem betonierten Platz. Hier endet
der Weg. 50 Stahlstäbe wurden hier in den Boden gerammt. Sie sind
unterschiedlich ausgefräst und zwischen 6,5 und 9,5 Metern hoch,
unüberwindlich. Ich stehe davor und kann gar nicht anders als an die
Gitterstäbe eines Gefängnisses zu denken. 30 Meter Durchmesser hat diese Skulptur.
Der Anblick deprimiert mich, je näher ich komme.
Aber plötzlich, vielleicht 50 Schritte vor dem Stahlstangen-Ungetüm,
sehe ich etwas anderes: Von jetzt auf gleich formen sich die einzelnen,
monströsen Gitterstäbe zu einem Portrait von Nelson Mandela. Ich kann es gar
nicht fassen. Dabei haben sich die Stahl-Stange keinen einzigen Zentimeter
bewegt. Ich nehme sie aus diesem Blickwinkel nur anders wahr. Nicht mehr als
ein Bild der Gewalt, sondern als Bild einer großen Inspiration.
Gehe ich ein paar Schritte weiter, löst sich das Portrait
wieder auf, und ich sehe erneut die Ansammlung der Stahl-Stangen. Allerdings
entdecke ich jetzt auch, dass sie gar nicht so undurchdringlich sind. Ich kann
durch sie hindurchgehen. Weil ich sein Portrait gesehen habe, kommt mir nun
jede Stele vor wie ein Teil von Mandela – wie ein Stück der großen weltweiten
Solidarität, die Südafrika auf den Weg in die Freiheit geführt hat. Und so
war’s ja auch: Nelson Mandelas Verhaftung hat nur dazu geführt, dass sich noch
mehr Menschen dem Widerstand anschlossen.
Ich gehe den Weg zum Auto anders zurück als ich gekommen
bin. Ich bin zum Ort der Verhaftung von Nelson Mandela gefahren, aber ich habe
ihn als einen Ort der Verwandlung erlebt. Kein Wunder, dass die beiden
Künstler, Marco Gianfelli und Jeremy Rose, ihre Skulptur „Release“,
„Freilassung“ genannt haben. Was sie erschaffen haben, nennt man ein
„Kippbild“.
Kippbilder sind mehrdeutig. In dem einen Moment sehen wir
nur die Gefängnisgitter, aber schon im nächsten Moment kippt unsere Wahrnehmung
und zeigt ein Symbol für Hoffnung. Das Bild selbst hat sich nicht bewegt. Ich
sehe etwas anderes. Ich sehe mehr.
Im Hebräer-Brief im Neuen Testament der Bibel steht: Das ist
Glaube. Glauben bedeutet mehr zu sehen.
Durch Gitterstäbe zu gucken und trotzdem zuversichtlich zu bleiben. Ein zweites
Bild zu sehen, das genauso wahr ist wie das erste. Hoffnung sehen in einer
deprimierenden Lage. Die Welt ansehen, als ob Gott schon da wäre. Mich ansehen,
als hätte mich Gott schon freundlich angeschaut. Und dann kippt etwas…
Ihre Christel Weber aus Bielefeld.
Quellen:
Die
Bibel (Luther 2017), Hebräer 11,1: „Es ist aber der Glaube eine feste
Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht
sieht.“
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
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