Guten Morgen!
Heute ist der
„Internationale Tag der Muttersprachen“. Im Jahr 2000 hat die UNESCO ihn ausgerufen.
Es gibt nämlich nicht nur vom Aussterben bedrohte Tierarten. Auch ein Großteil
der Sprachen der Welt ist von Aussterben bedroht. Statistisch gesehen
verschwindet fast jede Woche eine Sprache für immer von der Erde.
Von wem habe
ich eigentlich sprechen gelernt, habe ich mich gefragt. Klar, von meiner
Mutter. Ich höre mich ja heute noch manchmal reden wie sie. Aber nicht sie
allein.
Oft spreche
ich ganz wie der Papa. Meine Muttersprache ist auch eine Vatersprache. Und:
eine Opasprache. Es ist Opa Carls Stimme, die mir viel beigebracht hat, was für
mich ein Leben lang der Rede wert sein wird. Er hat mir Geschichten und die
Freude an ihnen im besten Sinn „eingeredet“. Aber es sind eigentlich nicht die Worte,
die mir zuerst einfallen. Es ist die Geborgenheit in Opa Carls Arm. In jener
Zeit, in der ich meinen Mund noch mehr zum Daumenlutschen als zum Sprechen
gebrauche. Ich bin ganz Ohr, wenn er mir ein Märchen nach dem anderen erzählt.
Meistens auf Plattdeutsch. „Die Bremer Stadtmusikanten“ ist mein liebstes
Märchen. Die Geschichte von Esel, Hund, Katze und Hahn, die was Besseres finden
wollen als den Tod und die die Räuber aus dem Haus vertreiben. „Nochmal!“,
fordere ich. Und Opa Carl erzählt nochmal. Und nochmal. Wie bin ich ihm dankbar,
für die Worte und für den Arm.
Warum
verschwinden bloß so viele Sprachen? Manche, weil
Herrscher mit ihrem Machtwort verbieten, sie zu sprechen und zu lehren. So
demütigt man Menschen, raubt ihre Identität und macht sie buchstäblich mundtot.
Sprachfragen sind Machtfragen. Und sie sind Widerstandsfragen. Ich erinnere mich an die Lebenserinnerungen
der alten russlanddeutschen Frauen, die ich als junge Pfarrerin kennenlernte. Die
Tapferen hatten unter Stalin ihrer deutschen Muttersprache das Leben gerettet. Die
alten christlichen Lieder vom Heiland und der ewigen Seligkeit zu singen, war
nicht nur ihre Tradition, es war ihr Widerstand. Sie hatten sie bei ihrer Übersiedlung
mitgebracht in abgegriffenen uralten Liederbüchlein und sangen daraus, sooft
einer der Ihren zu Grabe getragen wurde. Es war ergreifend.
Sprache und
Leben, Sprache und Macht, und noch etwas: Sprache und Liebe gehören aufs Engste
zusammen. „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die
Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.“ (Die
Bibel, Luther 2017, 1. Korinther 13,1), schreibt der Apostel Paulus. Und meint
damit: Wer lieblos redet, redet Blech.
Daran will
ich mich erinnern, wenn ich mal wieder Lust habe auf gemeine Sprache. Vielleicht
würde sie mir für einen Moment Befriedigung verschaffen. Doch ich weiß ja: Wenn
es mir nur darauf ankommt wehzutun, auszuteilen und das letzte Wort zu
behalten: dann bin ich nichts als ein dröhnender Gong oder eine schrille
Sirene. Die Sprache der Liebe ist die Muttersprache des Glaubens, sei es in
Deutsch, Englisch, Russisch oder Chinesisch. Sie darf nicht aussterben.
Die in der heutigen
Ukraine geborene jüdische Dichterin Rose Ausländer schreibt.
Wir wohnen
Wort an Wort
Sag mir
dein liebstes
Freund
meines heißt
DU
(Rose Ausländer, Wort an Wort.
Aus: dies., Im Aschenregen die Spur deines Namens. Gedichte und Prosa 1976. S. Fischer
Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1984.)
(Ende WDR 4,
Verabschiedung für WDR 3 und WDR 5:)
Einen gesegneten Tag wünscht Ihnen Pfarrerin Silke Niemeyer aus Münster.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/63299_WDR35240221Niemeyer.mp3