Evas Stuhl

Kirche in WDR2 | 04.12.2021 | 00:00 Uhr

Eva ist 36 und erinnert sich:

Ich bin sechs Jahre alt und kann mir nicht

vorstellen, dass mir irgendjemand etwa Böses will.

Man kann mir alles erzählen, ich glaube es. Warum

auch nicht? Ich wachse behütet auf, um nicht zu sagen,

völlig

abgeschottet: In den Kindergarten gehe ich nicht – meine beiden Eltern arbeiten

von Zuhause.

Fernsehen gucke ich nicht und die anderen Kinder wohnen

kilometerweit entfernt. Mir fehlt nichts,

jeder Tag ist ein kleines Abenteuer auf unserem

Hof, meiner kleinen, heilen Welt. In meiner Erinnerung

bin ich sehr glücklich. Jeden Morgen wache ich auf und

erzähle Gott von meinen Träumen und Wünschen.

Als wäre Gott wirklich da, auf dem Stuhl vor meinem

Fenster. Wunderbar naiv, oder?

Und dann kommen meine Eltern eines Abends in mein

Zimmer. „Eva,“ sagen sie:

„Nächstes Jahr musst du in die Schule. Nach diesem

Sommer kannst du schon in die Vorschule. Du musst nicht, aber was hältst du

davon?“ Begeistert sage ich sofort „ja“. „Da beginnt dann aber der Ernst des

Lebens.“

Für mich klingt es wunderbar. Wochen später betrete

ich strahlend an der Hand der Lehrerin den Raum und ich spüre es überall sofort:

Diese Blicke. Ich setze mich neben ein anderes Mädchen und lächele es an.

Sie sagt: „Was hast du denn an?“ „Mein

Lieblingskleid,“ sage ich. Sie sagt: „Das sieht komisch aus.“

Und da sehe ich es auch: Ich bin anders gekleidet

als die anderen.

Mir wird ganz heiß und ich will einfach nur weg.

Und das ist erst der Anfang:

„Wie sprichst du denn?“, „Warst du noch nie in der

Stadt?“ „Kannst du noch gar nichts lesen?“ Ein Junge erzählt mir von seinem

Einhorn und ich frage, ob ich es mal sehen kann und alle lachen laut. Ich lache

mit, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll. Ich komme zurück nach

Hause und unser Hof ist anders, langweiliger, hässlicher. Mein Vater sieht mich

besorgt an: „Du bist so still, Eva.“

Ich sage nichts und gehe in mein Zimmer. Der Stuhl

am Fenster steht woanders. Vor meinem neuen Schreibtisch.

Am nächsten Morgen wache ich ich auf und höre aus

der Schreibtischecke die Fragen der anderen: „Kannst du denn noch gar nichts

lesen?“ Ich ziehe die Decke über den Kopf, bis meine Mutter mich weckt.

Ich stehe auf, der Stuhl ist leer. Innerhalb von vierundzwanzig

Stunden habe ich mein Paradies verloren.

Der Stuhl steht jetzt in meinem Esszimmer. Im

Advent baut meine Freundin unsere alte Familienkrippe darauf auf.

Das gibt mir meinen Kinderglauben und meine

verlorene heile Welt nicht zurück, aber das ist auch in Ordnung.

Die Welt ist, wie sie ist. Es gibt Menschen, die

meinen es gut mit mir und manche nicht. Das weiß ich, seit ich sechs bin.

Aber immer öfter ertappe ich mich dabei, wie ich

morgens zur Krippe schaue und daran denke, was diesen Tag so vor mir liegt.

Und dann ist Gott wieder da.

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

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  • 4.12.2021
  • Katrin Berger
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